Reimer Gronemeyer
Reimer Gronemeyer
Reimer Gronemeyer
„Focus“

Menschen am Rande der Gesellschaft

Reimer Gronemeyer beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Randgruppen. In „Focus“ spricht er unter anderem darüber, dass es die westliche Gesellschaft ist, die mit ihrem Luxus am Rand stünden. Sein Vortrag „Wir sind am Rande der Gesellschaft“ wurde anlässlich des Festaktes zu 70 Jahre Kaplan Bonetti in Dornbirn aufgezeichnet.

Gronemeyer, der einstige Professor für Soziologie an der Justus-Liebig-Universität Gießen, beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit sogenannten Randgruppen – mit Menschen, die an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden, mit Außenseitern. Kein Wunder also, dass das Haus Kaplan Bonetti Gronemeyer zu seiner großen Jubiläums-Veranstaltung als Redner eingeladen hat. Seit 70 Jahren ist das Haus nun eine verlässliche Anlaufstelle für obdachlose und arbeitslose Menschen, Gronemeyer sollte beim Sommerfest der sozialen Einrichtung zum Thema „Menschen am Rande der Gesellschaft“ sprechen.

Imperiale Lebensweise zu Lasten anderer

In seiner Einführung regt Gronemeyer aber an, den Blick auf diesen Titel ins Gegenteil zu verkehren. Er macht deutlich, dass es im Grunde wir hier in der westlichen Welt seien, die am Rande stehen, dass wir mit unserem Luxus, in dem wir leben, die Minderheit seien. Wir würden mit unserem Reichtum eine Randgruppe darstellen. Wir würden räuberisch zu Lasten anderer leben – es sei eine imperiale Lebensweise.

Gronemeyer sagt: „80 Prozent der Menschen weltweit sind in einer Situation, die wir eigentlich als obdachlos bezeichnen würden. (…) 100 Millionen Menschen sind inzwischen etwa infolge des Klimawandels, Dürre, Überflutung als Flüchtlinge unterwegs – sie sind alle obdachlos. Man kann sagen, das ist überhaupt nicht der Rand der Gesellschaft, zumindest nicht der Rand der globalen Gesellschaft. Der Rand sind wir. Wir, diese drei, vier, fünf Prozent, die sich einen Lebensstil angewöhnt haben, der nicht demokratisierbar ist.“

Druck auf die Schwächeren wird wachsen

Gronemeyer beschäftigt sich seit Jahrzehnten auch mit den Fragen des Alterns in der Gesellschaft, mit der Hospizbewegung, mit Demenz und mit der Pflege. Der Soziologe zeichnet das erschreckende Bild, wie neo-kolonialistisch es sei, sich als alter weißer Mann zu guter Letzt von einer Afrikanerin oder Brasilianerin pflegen zu lassen. Gronemeyer sieht aber nicht nur die Pflegekrise auf uns zukommen. Der Druck auf die Schwächeren in der Gesellschaft würde generell wachsen, sagt der deutsche Soziologe. Die Pflegekrise, die Wohlstandskrise und auch die Klimakrise würden das ihrige dazu beitragen.

An einigen sehr eindrücklichen Beispielen zeigt Gronemeyer aber auch auf, wie sehr Menschen sich auch gegenseitig unterstützen und einander helfen können, wenn sie nur aufeinander achten. Ubuntu – heißt es in Afrika. „Ich bin, weil du bist.“ Kaplan Emil Bonetti hatte es einst folgendermaßen gesagt: „Das Wichtigste auf dieser Welt ist und bleibt der Mensch.“

Reimer Gronemeyer
Reimer Gronemeyer

Sendungshinweis

„Focus“ – Themen fürs Leben bei ORF Radio Vorarlberg, 15. Juli 2023, 13.00 bis 14.00 Uhr

Zur Person

Reimer Gronemeyer, geboren 1939, hat Theologie und Soziologie studiert, war Pfarrer in Hamburg und Professor für Soziologie an der Justus-Liebig-Universität Gießen. In seiner Forschung beschäftigt er sich mit den Fragen des Alterns in der Gesellschaft. Seit einem Vierteljahrhundert liegen seine Schwerpunkte auch auf der Hospizbewegung, auf Demenz und Palliative Care. Gronemeyer ist Autor zahlreicher Sachbücher.

70 Jahre Kaplan Bonetti

Im Februar 1953 hat der damalige Seelsorgeamtsleiter Edwin Fasching den „Verein der Freunde des Hauses der jungen Arbeiter“ gegründet. Vier Jahre später übernahm Emil Bonetti die Leitung des Arbeiterwohnheimes. Ab diesem Zeitpunkt setzte sich der Kaplan mit aller Kraft für „seine“ Bewohner des „Hauses der jungen Arbeiter“ ein, er bemühte sich ständig darum, Arbeit und Beschäftigung für sie zu finden.

Zu Beginn war es ein Wohnheim für Arbeiter aus Kärnten und der Steiermark, dann fanden Migranten aus dem damaligen Jugoslawien hier Platz. Das Haus war immer auch Asylwerberquartier und letztes Auffangnetz für Menschen mit Suchterkrankung und sozialen Problemen. Jetzt ist das Haus in der Nähe des Bahnhofs auch ein Ort der Begegnung und zählt zu den großen Wohnungsloseneinrichtungen Österreichs.