A child eats as people wait for a train to Poland at the railway station of the western Ukrainian city of Lviv on March 6, 2022
AFP
Foto: Ralf U. Heinrich
„Focus“

Herfried Münkler zum Thema „Nach dem Ukrainekrieg“

Einer der bekanntesten Politikwissenschafter des deutschsprachigen Raumes, Professor Herfried Münkler, hat zum Auftakt des Herbstsemesters des Montagsforums in Dornbirn zum Thema „Nach dem Ukrainekrieg. Die Lage Europas und die globale Ordnung“ gesprochen.

Der Titel „Nach dem Ukrainekrieg“ mag für viele verheißungsvoll klingen – der auf Kriegsgeschichte und Kriegstheorie spezialisierte emeritierte Professor der Berliner Humboldt-Universität macht aber sehr schnell deutlich, dass man sich weder auf ein baldiges Ende freuen kann noch auf ein Leben wie es vor dem 24. Februar mal war.

Höhepunkt des Wohlstandes überschritten

Nach dem Ukrainekrieg wird also – sagt Professor Herfried Münkler – nichts mehr so sein, wie es vorher war. Wir werden in Europa auf Jahre hinaus, vermutlich für Jahrzehnte, den Höhepunkt unseres Wohlstandes überschritten haben.

Professor Münkler hat die die nachfolgenden Überlegungen unter die Überschrift „Nach dem Ukraine-Krieg“ also nicht in der Erwartung, dass dieser Krieg bald zu Ende gehen werde, gestellt, sondern im Hinblick auf die grundlegenden Veränderungen, die dieser Krieg weltweit und vor allem für Europa haben wird.

Politikwissenschafter Herfried Münkler
Foto: Ralf U. Heinrich
Herfried Münkler ist emeritierter Professor für Politikwissenschaft

Drei Szenarien

Münkler sieht drei Szenarien, wie der Krieg zu Ende gehen könnte: Eines, das im Wesentlichen von Deutschland und Frankreich verfolgt wird, läuft darauf hinaus, den Status quo ante vom 23. Februar wiederherzustellen. Also durchaus eine Form eines dauerhaften Waffenstillstandes und der Akzeptanz der russisch verbleibenden Ukraine und der kleineren Separatistengebiete. Das zweite Szenario, das eher von den Briten verfolgt wird, läuft darauf hinaus, dass der Status quo ante von vor 1914 wiederhergestellt wird, also die territoriale Integrität der Ukraine, wie sie 1991/92 entstanden ist.

Und das dritte Szenario dürfte darauf hinauslaufen, dass die Amerikaner durchaus interessiert sind, einen möglichst langen Krieg zu führen, in dem die Russen sich gewissermaßen erschöpfen. Mit der Ukraine als Prellbock. So dass also nach dem Ende des Krieges in ein paar Jahren Russland militärisch tendenziell handlungsunfähig ist und sich die USA ihrem eigentlichen Problem China in aller Ruhe zuwenden können.

Die Rolle Deutschlands

Durch die Debatte über die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine haben sich laut Münkler die politischen Gewichte innerhalb Europas unbemerkt verschoben: Das deutsche Gewicht ist gewachsen, im Verlaufe des Ukrainekonflikt hat Deutschland an militärischem Gewicht gewonnen. Allein durch die permanenten Forderungen nach Rüstungslieferungen, die wesentlich an Berlin adressiert werden und nicht etwa in dieser Intensität an London, Paris oder Rom. Ein Einfluss, der sicherlich – sagt Politikwissenschafter Herfried Münkler – nur mit Zähneknirschen bei einigen europäischen Nachbarn akzeptiert worden ist.

Rückbau der Globalisierung

Der aktuelle Konflikt zeigt auch auf, wie negativ sich nun die globalen wirtschaftlichen Verflechtungen auswirken – Stichwort: Abhängigkeit. Nach der Pandemie hat dieser Krieg die Verwundbarkeit der globalen Handelsketten gezeigt, sagt Politikwissenschafter Münkler. Diese wirtschaftlichen Verwundbarkeiten ist man nach dem Ende des Kalten Krieges bewusst eingegangen, um auf diese Weise so etwas wie wechselseitiges Vertrauen aufzubauen.

Und man vertraut einander umso mehr, je abhängiger von voneinander man ist. Jetzt wird es aber laut Münkler zu einem begrenzten Rückbau der Globalisierung kommen. Man denke nur daran, dass die Grundstoffe für fast alle Medikamente in Indien hergestellt werden. Europa müsse eine gewisse Durchhaltefähigkeit entwickeln. Das ist die strategische Herausforderung für Brüssel.

Weitere instabile Räume

Professor Herfried Münkler warnt vor einer eingeengten Betrachtungsweise: Wer nur auf die Ukraine schaut, der sieht zu wenig, sagt er. Münkler weist darauf hin, dass es viel mehr instabile Räume gibt, sogenannte Krisenherde: Etwa die Türkei, die mit dem Kurdenkonflikt im eigenen Land genauso beschäftigt ist wie mit Griechenland und dem Streit um die Ägäis. Zudem hebt Münkler auch Ex-Jugoslawien hervor, insbesondere Serbien, das immer noch Begehrlichkeiten hat – etwa den Kosovo. Es drohen also mehrere Konflikte in und rund um Europa und Putin wird bestrebt sein – sagt der Politikwissenschafter, diese auch quasi anzuzünden. „Das wird uns viel Kraft und Phantasie und vor allen Dingen Geld kosten, diesen Raum einigermaßen ruhig zu halten.“

Sendungshinweis: „Focus“ – Themen fürs Leben bei ORF Radio Vorarlberg, 8. Oktober 2022, 13.00 bis 14.00 Uhr

Dass in diesem großflächigen Raum rund ums schwarze Meer bzw. vom Kaukasus zum Balkan solche Krisen drohen, hat auch historische Gründe. Dieser Raum ist seit dem ersten Weltkrieg instabil, sagt Professor Herfried Münkler.

Neue Grenzen

Aus der Geschichte wissen wir auch folgendes: es gibt nach Kriegen immer Staaten, die unzufrieden sind mit Friedensverträgen, damit wie Grenzen neu gezogen wurden. Das würden sie am liebsten revidieren, den Status Quo bekämpfen. Politikwissenschafter Herfried Münkler spricht von revisionistischen Mächten. Die große revisionistische Macht schlechthin war und ist Russland, sagt Professor Münkler, auch wenn das lange nicht akut war. Akut wurde es spätestens mit Putins später viel zitierter Äußerung, der Zerfall der Sowjetunion sei die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts gewesen.

Putin werde aber entgegen den Behauptungen, sicherlich nicht eine zweite Front – etwa im Baltikum- aufmachen, sagt Münkler. Das kostet ihn eigene Kräfte, von denen er erkennbar zu wenig hat. Sondern er wird versuchen, dann eher Konflikte zu schüren, etwa durch die Nutzung von Serbien oder aber in undurchsichtigen Koalitionen mit den Türken. Mit dem Ziel, dass die Europäer mehrere Probleme haben, die sie bearbeiten müssen, sodass also in ihrer Aufmerksamkeit der Ukraine-Krieg in den Hintergrund tritt. Für Putin kommt es billig, wenn etwa die Serben Stress machen.

Das ist zugleich neben der nuklearen Eskalation und Drohung das eigentliche Problem dieses Krieges, erklärt Münkler. Der Konflikt hat räumlich gewaltige Expansionspotenziale. Deswegen muss die erste Aufmerksamkeit und Sorge der Europäer sein, sicherzustellen, dass dieser Krieg nicht nur nicht unendlich lange dauert, sondern dass er sich auch räumlich nicht ausdehnt. Es muss laut Münkler gelingen, ihn weiterhin so zu lokalisieren, dass er eigentlich nur im Donbas geführt wird.

Zur Person:

Herfried Münkler ist emeritierter Professor für Politikwissenschaft an der Berliner Humboldt-Universität mit dem Schwerpunkt Politische Theorie und Ideengeschichte. Forschungsschwerpunkte sind wiederum Kriegsgeschichte und Kriegstheorie. Viele seiner Bücher gelten als Standardwerke, etwa „Die Deutschen und ihre Mythen“, das mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet wurde, sowie „Der Große Krieg“, „Die neuen Deutschen“ oder „Der Dreißigjährige Krieg“, die alle monatelang auf der „Spiegel“-Bestsellerliste standen.