Christian Wehrschütz im VH-Interview am 11.10.2023
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„Vorarlberg Heute“

Christian Wehrschütz: Nahost-Auswirkungen auf Ukraine-Krieg

Der Krieg in der Ukraine hat monatelang die Schlagzeilen bestimmt. Seit den Terrorangriffen der Hamas auf Israel schaut die ganze Welt nun auf den nahen Osten. ORF-Korrespondent Christian Wehrschütz analysiert im Interview mit ORF „Vorarlberg Heute“, was das für den von Russland überfallenen Staat bedeuten könnte.

ORF Vorarlberg: Was kann es für die Ukraine bedeuten, wenn die ganze Welt jetzt nur noch auf den Nahen Osten blickt?

Christian Wehrschütz: Es ist natürlich die Frage, wie lang dieser Krieg oder diese Krise im Nahen Osten dauert, ob sich das ausweitet oder nicht ausweitet. Aber es ist ganz generell so: Der Pferdefuß der Ukraine ist die westliche Hilfe. Denn ohne westliche Hilfe – militärisch, finanziell – kann die Ukraine nicht standhalten, auf Dauer gesehen. Und da ist es natürlich so, dass jede Ablenkung, dass die Ukraine aus dem Fokus rausgeht, es natürlich schwieriger macht, möglicherweise die eigene Bevölkerung zu motivieren, Geld zu liefern, Waffen zu liefern. Dazu kommen dann noch der amerikanische Präsidentschafts-Wahlkampf und die Wahlen zum Europäischen Parlament. Die Kriegsmüdigkeit ist spürbar, offensichtlich auch in den europäische Staaten. All das ist sicherlich etwas, was die Ukraine mit Argusaugen beobachtet, weil das natürlich die westliche Hilfe schwächen kann.

Wehrschütz (ORF) zu Ukraine-Krieg

ORF-Korrespondent Christian Wehrschütz spricht unter anderem darüber, was die Terrorangriffe der Hamas auf Israel für die Ukraine bedeuten sowie über die derzeitige Situation in der Ukraine.

ORF Vorarlberg: Wenn der Westen sich jetzt quasi überlegen muss, wem helfe ich wie? – Israel wurde ja schon angekündigt und weiterhin der Ukraine – das kann doch eigentlich nur Russland freuen?

Christian Wehrschütz: Russland ist sicherlich ein Land, das insgesamt von dieser Situation jetzt profitiert. Das ist gar keine Frage. Warum auch immer dieser Konflikt im Nahen Osten jetzt stattfindet. Aber ganz generell darf man nicht vergessen: Es gibt ein Ungleichgewicht. Russland hat auf Kriegsproduktion umgestellt, in Europa ist man meilenweit davon entfernt. Und die Frage ist auch, gibt es die Bereitschaft dazu? Das zweite ist: Für Russland ist die Bedeutung der Ukraine ganz anders zu sehen als für die USA, die bisher nie bereit waren, Sicherheitsgarantien abzugeben. Wir werden sehen, auch was mögliche Schwüre einer zukünftigen NATO-Aufnahme wert sind. Also diese Problematik besteht einfach. Und viele amerikanische Militärs haben immer wieder gesagt, der Kriegsverlauf wird sich nicht so dramatisch ändern und man wird eine Friedenslösung finden müssen, also eine Verhandlungslösung. Nur wie die ausschauen kann, ist derzeit so unklar, dass man leider davon ausgehen muss, dass dieser Krieg weitergeht.

Sendungshinweis: „Vorarlberg heute“, 11. Oktober 2023, 19.00 Uhr, ORF2V

ORF Vorarlberg: Wenn der Krieg weitergeht und möglicherweise weniger Geld und Waffen vom Westen in die Ukraine kommen: Wie lang kann das Land denn überhaupt noch durchhalten?

Christian Wehrschütz: Erstens einmal muss man sagen, etwa 20 Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung gehen mittlerweile in alles, was Kriegsanstrengungen betrifft. Zweitens: Ohne westliche Finanzhilfe könnte man Pensionen nicht auszahlen, Sozialhilfeleistungen nicht auszahlen, usw. Andererseits haben wir eine große Bereitschaft der Bevölkerung durchzuhalten, eben weil man Russland nicht vertraut. Und was man auch nicht vergessen darf: Wir haben große Unternehmen, die ganz massiv die Ukraine unterstützen, beispielsweise der größte Betrieb, die Holding von Rinat Achmetow, hat 200.000 Mitarbeiter – die Hälfte der Bevölkerung von Vorarlberg – die hat mehr als 160 Millionen Euro mittlerweile in Kriegsunterstützung gesteckt, von der Produktion von Dummys, also aus Holz gefertigten Waffenattrappen bis hin zu 14 Millionen Hilfspaketen, die man verteilt hat seit 2014. Also das sind schon auch stabilisierende Faktoren. Aber ganz generell ist natürlich die Ukraine massiv vom Westen abhängig.

ORF Vorarlberg: Der Winter steht vor der Tür. Glauben Sie, dass sich da jetzt vom Frontverlauf in der Ukraine noch viel tun wird? Oder beginnt man da schon, sich wieder einzugraben für die kalten Monate?

Christian Wehrschütz: Also derzeit schaut es nicht danach aus, dass es Durchbrüche an der Front gäbe. Natürlich werden wir eine Regenperiode haben. Aber auch im Winter, wenn es gefroren ist, lässt sich dann kämpfen. Auf der anderen Seite ist noch weniger Deckung vorhanden. Also der Krieg wird sicherlich weitergehen, auch über den Winter hinaus. Die große Frage wird sein: Wie gut ist die Ukraine vorbereitet zum Schutz der kritischen Infrastruktur? Im Winter des Vorjahres hat Russland massiv versucht, die Stromversorgung und all diese Dinge zusammen zu schießen. Wir werden sehen, was das heuer bedeutet.

Christian Wehrschütz war auf Einladung der Raiffeisenbank am Mittwoch zu Gast für einen Vortrag in Wolfurt, am Donnerstag liest er im „Freudenhaus“ in Lustenau aus seinem Buch „Mein Journalistenleben zwischen Darth Vader und Jungfrau Maria“.