TikTok
APA/dpa-Zentralbild/Jens Kalaene
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Medien

Nicht nur Musik: TikTok und der Ukraine-Krieg

TikTok – das sind vor allem harmlose Tanzvideos, denken viele Eltern. Nicht wissend, dass über das soziale Medium mit ständig wachsender Reichweite inzwischen massenhaft Kriegsvideos aus der Ukraine verbreitet werden. Grausamste Bilder seien da zu sehen, betont der Vorarlberger Sozialarbeiter und ehemalige LKA-Polizist Alexander Wachter.

Einst war der Vietnamkrieg eine brutale Medienpremiere: Erstmals übertrug das Fernsehen reale Kriegsbilder direkt in das Wohnzimmer. Nun ist es nicht mehr das Wohnzimmer: Der Ukraine-Krieg begleitet uns überall hin – via Smartphone auf Nachrichtenportalen und Social Media. Es ist zwar nicht das erste Mal, dass ein weltweit beachteter Konflikt auf Social Media dokumentiert wird. Beim Arabischen Frühling Anfang der 2010er Jahre etwa waren Twitter und Facebook gefragt.

Doch wenn auch in anderen sozialen Netzwerken grausame Bilder aus der Ukraine zu sehen sind – mit TikTok ist noch einmal alles anders, schreibt das Onlineportal „Zeit. de“ der deutschen Wochenzeitung „Die Zeit“: „Noch unmittelbarer, denn man muss nicht klicken. Es plärren sofort Videos los, wenn man die App öffnet. Clip folgt auf Clip folgt auf Clip.“ Und selbst wer gar nicht nach dem russischen Krieg gegen die Ukraine gesucht hat, kann ihn auf den Bildschirm gespült bekommen.

Polizist und Sozialarbeiter

Der Altacher Sozialarbeiter Alexander Wachter ist Bewährungshelfer bei „Neustart“ und hält zudem als selbstständiger Medienpädagoge Vorträge über das Thema Mediennutzung von Kindern und Jugendlichen. Mit den Gefahren kennt er sich aus: Wachter war mehrere Jahre lang als Polizist im Landeskriminalamt im Bereich der Informationstechnologie sowie der Jugendprävention bei der Polizei tätig und unterrichtete in der Polizeischule, bevor er nach einem berufsbegleitenden Studium zur Sozialarbeit wechselte.

Der Algorithmus entscheidet

Denn bei TikTok entscheidet der Algorithmus, was den Usern angeboten wird. Diese Algorithmen richten sich danach, was einmal angeschaut wurde – auch wenn etwas nur ein paar Sekunden lang angesehen wurde, erklärt Alexander Wachter, einst Ermittler im Vorarlberger Landeskriminalamt und heute Sozialarbeiter.

Dazu brauche es nicht einmal die aktive Eingabe eines Suchwortes. Denn zunächst schlage TikTok Videos nach dem Zufallsprinzip vor. Schaue der User dann wenige Sekunden ein Video an, werde gespeichert, für was sich der User interessiere, beschreibt Wachter die Vorgangsweise.

Vielen Eltern ist das Thema nicht bekannt

Ein Beispiel: Ein Jugendlicher bekommt von TikTok zufällig ein Video vorgeschlagen, dass mit einem Panzer beginnt. Er schaut sich das Video nur wenige Sekunden an, schon speichert das System ein Interesse des Jugendlichen an solchen Videos, er wird nun öfter Videos mit diesem Thema angeboten bekommen. Und so würden auch die Kids mit Kriegs-Videos aus der Ukraine bespielt, erklärt Wachter. Und zwar mit grausamsten Bildern etwa von Leichen aus dem ukrainischen Ort Butscha.

Und das geschehe oft ohne das Wissen der Eltern, die denken, TikTok sei eine Plattform vor allem mit Tanzvideos und Unterhaltungselementen. Vorsicht war bislang für viele Eltern nur bei sogenannten „TikTok“-Challenges geboten, die nicht immer ungefährlich waren. Aber davor konnte man die Kinder warnen – ansonsten alles harmlos, denken immer noch viele.

TikTok-tanzend an die Chartspitze

Die chinesische Social-Media-App TikTok ist nicht nur eine beliebte Videoplattform, sondern auch ein Katalysator für musikalischen Erfolg geworden – und das nicht zwingend nur für neue Musik. Wird ein Song in einem beliebten Clip verwendet, ist der Erfolg eigentlich vorprogrammiert. Das löst Synergieeffekte aus, die weit bis in die Charts hineinreichen – mehr dazu in news.ORF.at.

Vom ersten „TikTok-Krieg“ die Rede

Und schließlich bedeutet TikTok auch immer noch viel Spaß, Unterhaltung und Musik. Inzwischen ist das soziale Medium aber auch zum besonders schnellen Verteiler von nachrichtlichen oder vermeintlich nachrichtlichen Inhalten geworden – oft schneller als andere Soziale und journalistische Medien. Auf TikTok sei aktuelles Videomaterial direkt vom Ort des Geschehens häufig zuerst zu sehen, sagt Wachter.

Denn die chinesische App macht es den Usern möglich, Videos schnell und unkompliziert hochzuladen. Anders als auf anderen Plattformen muss man sich zudem nicht erst mühsam Reichweite erarbeiten: Schon das erste Video könnte vom Algorithmus verbreitet und so von Millionen angeschaut werden.

Und damit ist es für Menschen in der Ukraine eine Möglichkeit, ungefiltert auf das brutale Geschehen aufmerksam zu machen und den Krieg zu dokumentieren. Und es ist eine Möglichkeit, individuelle Einblicke in das Leben in den Bunkern und mit dem Krieg zu geben, das wahre Leid ungeschminkt zu zeigen. Laut der „New York Times“ überwog bereits im März die Menge der Kriegsinhalte in der App bei weitem das, was in anderen sozialen Netzwerken zu finden war. Schnell war vom ersten „TikTok-Krieg“ die Rede.

Brodnig: TikTok fälschungsanfällig

Damit werde aber auch Propaganda verbreitet, warnt Wachter. Wie auch auf anderen Sozialen Plattformen finden sich auch auf TikTok bewusste Desinformationen – vor allem aus dem Kontext gerissene Videos oder altes Bildmaterial, das fälschlicherweise den aktuellen Krieg in der Ukraine zeigen soll, gebe es vielfach, sagen Medienforscher. Allerdings: Auch seriöse Medien nutzen TikTok für die Verbreitung ihrer seriösen Nachrichten – wie nun auch die ORF-Nachrichtensendung „Zeit im Bild“.

Aber auch von offiziellen Stellen wird TikTok genutzt, auch von der Ukraine. Russland nütze TikTok gezielt zur Meinungsmache, so Autorin und Journalistin Ingrid Brodnig Ende März im ORF-Fernsehen. In Russland selber ist die freie Meinungsäußerung über Soziale Netzwerke massiv eingeschränkt. TikTok zog sich von selbst Anfang März aus Russland zurück.

„Bei TikTok muss ich sagen: Glauben Sie mal nichts, weil TikTok zu leicht fälschungsanfällig ist", so Brodnig. „Soziale Medien bieten Fake News eine Plattform. TikTok im Speziellen, bietet unglaublich viele Bearbeitungsmöglichkeiten, um Videos zu fälschen. Man kann zum Beispiel sehr gut Töne einarbeiten, die ganz woanders herstammen. Da klingt das dann so, als ob etwas explodieren würde“, so Brodnig.

Manipulation durch Musik möglich

Die Audiofunktion von TikTok ermöglicht es den Nutzerinnen und Nutzern, die Töne oder Musik aus einem Video zu entfernen und diese dann über eigenes Material zu legen. Diese Audiofunktion wird normalerweise für Lippensynchronisations- oder Tanzvideos auf TikTok genutzt, womit die Plattform ursprünglich bekannt geworden ist.

Wenn bei Bildern aber dramatische Musik hinterlegt werde, mache es das Ganze noch eindringlicher und für Kinder angsterregender, sagt auch Sozialarbeiter Alexander Wachter – hinterlegte Musik könne zudem manipulativ wirken, sagt auch Wachter.

„Bruchloser Flow“: Schminkvideos und Kriegsbilder

Die furchtbaren Bildwelten sind vor allem für Kinder, denen die Kurzvideos in den Feed geschwemmt werden, nicht unbedenklich – darauf weist im Nachrichtenmagazin „Profil" Barbara Buchegger, die pädagogische Leiterin der NGO Safer Internet, hin. „Die sehr kurzen, häufig mit Musik unterlegten Videos sprechen Emotionen besonders stark an und machen es den Jugendlichen schwer, Fakten zu überprüfen. In dem bruchlosen Flow können zwischen Scherz- und Schminkvideos sehr unvermittelt schlimme Kriegsbilder auftauchen und emotional stark herausfordern“, so Buchegger.

Die App TikTok ist laut Safer Internet ab 13 Jahren erlaubt. Unter 18 Jahren brauche es offiziell die Einwilligung eines Erziehungsberechtigten – diese werde jedoch von den BetreiberInnen der Anwendung nicht tatsächlich eingeholt. Das tatsächliche Mindestalter kann von der rechtlichen Lage im eigenen Land abweichen. In Österreich liegt das Mindestalter zur Nutzung von Sozialen Netzwerken demzufolge strenggenommen bei 14 Jahren.

„Apps gemeinsam mit den Kindern anschauen“

Der Vorarlberger Sozialarbeiter Wachter bringt das Thema TikTok und Ukraine-Krieg neuerdings in seinen Vorträgen vor Eltern zur Sprache – und stößt dabei mitunter auf sehr überraschte und ahnungslose Väter und Mütter. Gerade die Coronaviruszeit habe aber die Verweildauer der Kinder vor elektronischen Geräten gesteigert, man müsse möglichst sensibel auf die Kinder zugehen. „Ich glaube, dass wir diese Dimension als Gesellschaft noch nicht so auf dem Schirm haben“, sagt Wachter.

„Ich kann Eltern nur ermutigen, dass sie sich gemeinsam mit ihren Kindern anschauen, was für Apps konsumiert werden“, rät Wachter, ein gemeinsames Erarbeiten des Internets sei oft sinnvoller, als einfach von vorneherein etwas kategorisch zu verbieten. Dann würden die Kinder vielleicht doch zum Beispiel etwas Grausames sehen, sich aber nicht trauen, das bei den Eltern anzusprechen. Es brauche eine Mischung aus Wissen, Kontrolle und Vertrauen, so Wachter.

„Safer internet“: Tipps für Eltern

Die Plattform „Safer internet“ hat Tipps für Eltern zusammengestellt.

  • Gemeinsam entdecken: Probieren Sie TikTok einfach einmal selbst aus oder begeben Sie sich gemeinsam mit Ihrem Kind auf „Entdeckungsreise“. Sie werden nicht nur die Faszination dahinter besser verstehen, sondern auch mögliche Risiken besser einschätzen können.
  • Reden statt verbieten: Auch wenn Sie skeptisch sind – ein reines Verbot ist eher kontraproduktiv, vor allem wenn TikTok im Freundeskreis Ihres Kindes gerade sehr beliebt ist. Sprechen Sie mit Ihrem Kind darüber, warum es die App unbedingt nutzen möchten und klären Sie gemeinsam mögliche Risiken ab.
  • Regeln vereinbaren: Legen Sie gemeinsam mit Ihrem Kind fest, welche Art von Videos auf TikTok in Ordnung sind und welche nicht (z. B. keine freizügigen Videos oder solche, die Rückschlüsse auf den Wohnort oder die Schule zulassen). Sind in einem Video auch andere Personen zu sehen, müssen diese vor dem Posten um Erlaubnis gefragt werden.
  • Privatsphäre schützen: Besprechen Sie mit Ihrem Kind, warum ein privates Konto auf TikTok sinnvoll sein kann und werfen Sie gemeinsam einen Blick auf die Privatsphäre-Einstellungen der App.
    Urheberrechte beachten. Erklären Sie Ihrem Kind, was Urheberrechte sind und warum man die in TikTok produzierten Videos nicht einfach woanders hochladen darf.
  • Kreativ werden: Regen Sie Ihr Kind dazu an, der eigenen Kreativität auf TikTok freien Lauf zu lassen – in den Videos muss nicht unbedingt Ihr Kind selbst im Bild sein! Mit ein wenig Geschick gelingt auch eine alternative Performance, die sich sehen lassen kann (z. B. ein Stop-Motion-Video mit gezeichneten Charakteren).