Migrationsforscher Gerald Knaus
Francesco Scarpa
Francesco Scarpa
Chronik

Knaus: Hilfsbereitschaft könnte Sternstunde der Humanität werden

Nach Angaben der Vereinten Nationen sind schon mehr als eine Million Flüchtlinge aus der Ukraine Richtung EU unterwegs. Eine Entwicklung, die auch der Vorarlberger Migrationsforscher Gerald Knaus genau beobachtet. ORF Radio Vorarlberg-Redakteur Andreas Feiertag hat Knaus gefragt, worauf wir uns vorbereiten müssen.

ORF Vorarlberg: Gerald Knaus, die UNO spricht von bis zu fünf Millionen Flüchtlingen aus der Ukraine. Davon ausgehend rechnet unsere Landesregierung mit 150.000 Menschen, die nach Österreich kommen könnten und an die 6.000 ukrainische Flüchtlinge, die schlussendlich in Vorarlberg landen würden. Können Sie diese Zahlen nachvollziehen?

Knaus: Also die Entwicklung der letzten Woche hat gezeigt, dass wir es mit der größten Flucht, der schnellsten Flucht seit dem Zweiten Weltkrieg zu tun haben. Alle Schätzungen sind natürlich davon abhängig, wie der Krieg sich weiterentwickelt. Aber wenn wir nur nach Tschetschenien blicken, wo ja Putin schon einmal so einen Krieg geführt hat, dort sind mehr als ein Viertel der Bevölkerung vertrieben worden während dieser Kämpfe aus ihren Häusern. Im Falle der Ukraine wären das zehn Millionen Menschen. Und ob es zu diesen Zahlen kommt, liegt jetzt einzig und allein daran, wie der Krieg weitergeht und wie sich die Ukrainer im Widerstand gegen Putin halten.

ORF Vorarlberg: Das heißt, diese Zahlen sind durchaus realistisch?

Knaus: Absolut. Es könnten auch mehr als fünf Millionen werden. Denn Putins Art, Krieg zu führen, den wir aus Tschetschenien, aus der Ostukraine und aus Syrien kennen, zielt eigentlich darauf, und das hat er ja klar gesagt, er will die ukrainische Identität zerstören. Dazu sind ihm alle Mittel recht. Und da die ukrainische Identität ja die Identität von Menschen ist, bedeutet das eigentlich, dass er sehr viele Ukrainer am Ende auch vertreiben wird wollen. Also wenn er diesen Krieg gewinnt und sich an der Macht hält, dann wird er sicherlich die größte Fluchtbewegung seit 1945.

ORF Vorarlberg: Die Europäische Union will den ukrainischen Flüchtlingen vorerst ein zweijähriges Aufenthaltsrecht geben. Für die Logistik dieser Massen an Flüchtlingen braucht es dazu einen sogenannten Verteilungsschlüssel für die Menschen auf die einzelnen EU-Mitgliedsstaaten. Oder sollen sie dorthin, wo sie hin wollen oder können?

Knaus: Ich glaube, wir haben eine Sache gelernt aus den Erfahrungen der letzten Jahre, dass europaweite Verteilung bürokratisch gar nicht zu machen ist, dass ist also eine Mischung braucht. Und das ist auch das, was die Kommission jetzt vorschlägt. Ukrainer können sich de facto selbst verteilen, weil sie überall in der EU die gleichen Rechte bekommen. Sie können ja visafrei in jedes Land der EU reisen, also auch nach Spanien, wo es ja auch eine ukrainische Diaspora gibt, auch nach Schweden, nach Italien. Aber natürlich ist es sinnvoll, wenn Staaten koordinieren und melden, wie viele Plätze sie hätten, um, wenn die Zahl weiter steigt, Menschen, das sind ja vor allem Frauen und Kinder, dorthin zu lenken. Aber eine strikte Verteilung, das, was wir in Griechenland erlebt haben, wo man eine kleine Zahl von Menschen in einem mühsamen Prozess nach einem Schlüssel versucht hat, zunächst mal festzuhalten, um sie dann strikt zu verteilen, das wird es hier nicht geben. Und das ist auch besser so. Denn damit käme man mit dieser Zahl von Menschen gar nicht zurecht.

ORF Vorarlberg: Kommen wir auf die Zahlen zurück. Vorarlberg, wie gesagt, erwartet bis zu 6.000 Flüchtlinge aus der Ukraine. Vorarlberg sucht derzeit nach Großquartieren. Eignen sich große Quartiere oder sollte man hier nicht andere Lösungen anbieten?

Knaus: Also ich glaube, dass es, wenn in einer Woche eine Million Menschen kommen und wenn vielleicht in der nächsten Woche wieder eine Million Menschen kommen, es natürlich um zweierlei geht. Möglichst viele Menschen sehr, sehr schnell menschenwürdig irgendwie unterzubringen. Aber es ist auch klar, aufgrund der Massenzustrom-Richtlinie, haben ja die Kinder das Recht auf Unterricht. Die Menschen haben das Recht zu arbeiten. Das werden viele kurzfristig nicht tun, weil sie erhoffen schnell in die Ukraine zurückzukehren. Aber ich fürchte, so wie sich der Krieg derzeit entwickelt, ist es nicht realistisch, dass diese Frauen und Kinder schon in den nächsten Monaten zurückkehren werden. Und dann stellt sich tatsächlich die Frage, ob, wenn man es nicht fertigbringt, logistisch möglichst viele Menschen anders unterzubringen. Und Programme mit Patenschaften, wo sich Familien, Freunde, Menschen, die einen Raum im Haus haben, melden können und sagen: Wir können eine Mutter und zwei Kinder bei uns für einige Monate aufnehmen. Die wären ein sehr, sehr guter Einstieg, um vielleicht Massenquartiere ganz zu vermeiden, denn dann sind Menschen für einige Wochen oder Monate aufgenommen. Das hilft bei der Orientierung, das hilft psychologisch bei der Integration. Und danach können die Menschen versuchen, sich selbst eine Unterkunft zu finden. Denn sie haben ja auch Anspruch auf Sozialhilfe und Unterstützung. Also in dem Fall bin ich nicht sicher, ob Massenquartiere wirklich ein guter Weg nach vorne sind.

ORF Vorarlberg: Das heißt, es braucht jetzt die Solidarität jeder/jedes Einzelnen im Land.

Knaus: Ich glaube tatsächlich, dass es möglich ist und dass das eine Sternstunde der Humanität sein kann, wie es ja in Österreich auch schon 2015 der Fall war. In diesem Fall eine Mobilisierung von vielen in der Zivilgesellschaft, von Gemeinden, von Vereinen, von Kirchen, die sagen: Wir haben Platz, wir kümmern uns um Menschen, die ja auch ihre Väter, ihre Männer in der Ukraine zurückgelassen haben. Wir nehmen uns ihnen an. Wir helfen ihnen bei der Orientierung und der Staat unterstützt das. Und die Rechtslage ist ja durch diese EU-weite Regelung zum Glück auch dann bereits gegeben.