Jeanette Fischer
Andreas Ziehler
Andreas Ziehler
„Focus“

Jeannette Fischer – Existentielle Grenzverletzungen

Die Psychoanalytikerin Jeannette Fischer sprach beim Montagsforum in Dornbirn über Grenzverletzungen in der Kleinfamilie und ihre langfristigen Auswirkungen auf Kinder und junge Menschen.

Grenzverletzungen finden besonders in der Kleinfamilie statt – sagte schon Sigmund Freud. Kinder und junge Menschen sind die Leidtragenden dieser Grenzverletzungen. Sie sind älteren und mächtigeren besonders ausgesetzt. Ihnen wird ein gewisses Verhalten – oft vermeintlich gut gemeint – aufgezwungen. Die Folgen spüren sie mitunter ein Leben lang, der eigentliche Grund wird ihnen dabei oft gar nicht bewusst.

Darüber spricht die Psychoanalytikerin und Autorin Jeannette Fischer aus Zürich. Ihrer Ansicht nach sind wir alle Betroffene von Grenzverletzungen und geben diese weiter.

Sendungshinweis

„Focus“ – Themen fürs Leben bei ORF Radio Vorarlberg, 3. Februar 2024, 13.00 bis 14.00 Uhr

Der Mensch braucht Grenzen, sagt sie, die Entgrenzung hält er nicht aus. Er träumt von der Grenzenlosigkeit und fürchtet sie gleichzeitig. Wir fürchten sie zu Recht, sagt Jeannette Fischer. Ihr Vortrag beim Montagsforum in Dornbirn trägt den Titel: Grenzen sind dazu da, die Grenzenlosigkeit einzufangen.

Psychoanalytikerin Jeannette Fischer geht dazu auf den Ursprung eines Begriffs ein, der in aller Munde ist: auf den Narzissmus. Sie fächert jene Geschichte auf, die dem Begriff zu Grund liegt: die Geschichte des schönen Jünglings Narziss. Fischer konzentriert sich dabei aber weniger auf den sonst viel beachteten Aspekt der Selbstliebe. Sie beleuchtet narzisstische Beziehungsmuster und wirft andere Fragen auf: Warum hat Narziss nur noch sich selbst als Gegenüber? Warum kommt ihm die Welt abhanden?

Narziss wurde zum Objekt des Begehrens, der Bedürfnisse anderer. Man spricht von einer sogenannten Selbstobjektbeziehung, vor allem dann, wenn jemand den Wünschen und Erwartungen der anderen entspricht, einfach damit eine Ruhe ist bzw. aus Angst vor Lebensentzug. Man fühlt sich schuldig, wenn man den Erwartungen der anderen nicht entspricht. Laut Fischer bilden dann Schuldgefühle den Beziehungskitt.

Jeannette Fischer spricht sich im Gegensatz dazu für eine intersubjektive Bindung der Menschen aus. Charakteristisch dafür ist, dass die Menschen sich in ihrer Andersartigkeit anerkennen.
Fischer schreibt: „In der intersubjektiven Bindung ist das, was zwei Menschen verbindet, die gegenseitige Anerkennung ihrer Differenz. Diese gegenseitige Anerkennung ist auch die Voraussetzung dafür, was wir als „Freiheit“ bezeichnen können. Die Grundlage dieser Freiheit ist genau diese Intersubjektivität, denn sie schützt die Menschen vor Übergriffen – ob nun gesellschaftlicher, politischer oder individueller Natur –, wahrt die persönliche Integrität jedes Menschen und ermöglicht ihm eine kreative und eigenmächtige Ausdehnung des Ich in der Beziehung und in der Gesellschaft. (…) Die Anerkennung der Differenz des anderen hat nichts mit Gleichmacherei zu tun, im Gegenteil: Sie kann gelebt werden, ohne dass zwischen den Menschen Hierarchien und Gefälle eingerichtet werden, ohne Ungerechtigkeiten, Unterdrückung und Gewalt. Das ist es, was Freiheit ausmacht: Auf die Eigenverantwortung eines jeden und einer jeden zählen zu können, darauf, dass ein Jeder und eine Jede die Differenz zum anderen aushält. Das Aushalten ist hier die große Arbeit, das Aushalten der Differenz.“

Zur Person:

Jeannette Fischer studierte in Athen und Tübingen vergleichende Religionswissenschaften, wechselte jedoch nach zwei Jahren in die Ausbildung zur Freud’schen Psychoanalytikerin in Zürich. In diesem Beruf arbeitete sie dreißig Jahre in eigener Praxis. Sie war Dozentin und Co-Leiterin am Psychoanalytischen Seminar in Zürich. Sie kuratierte Ausstellungen und drehte zudem zwei Dokumentarfilme.

Ihre Hauptanliegen sind die Aufdeckung von bedeckten, gewalttätigen Strukturen, beziehungsweise das Hinterfragen jeglicher Machtstrukturen und gleichzeitig das Einführen eines neuen Denkansatzes, in dem das einzig Verbindende in menschlicher Beziehung die Anerkennung der Differenz ist.