„Focus“

Susanna Niehaus spricht über Scheinerinnerungen

Erinnerungen sind nicht immer zuverlässig, wie Professorin Dr. Susanna Niehaus von der Hochschule Luzern in einem Vortrag beim Montagsforum in St. Gallen (CH) erläutert. Sie spricht über Scheinerinnerungen und zeigt den Fall des Schweizers Binjamin Wilkomirski auf, der sich als Holocaust-Überlebender ausgab.

Wie zuverlässig sind unsere Erinnerungen? Können sie uns täuschen und uns Ereignisse vorgaukeln, die nie stattgefunden haben? Professorin Dr. Susanna Niehaus, Psychologin und Gerichtsgutachterin an der Hochschule Luzern, hat sich intensiv mit diesem Phänomen, den sogenannten „Scheinerinnerungen“, beschäftigt.

Scheinerinnerungen und ihre Auswirkungen

Scheinerinnerungen sind Erinnerungen, die wie andere auch im Langzeitgedächtnis abgespeichert werden und die man beim Abrufen mit Empfindungen und Sinneseindrücken verknüpft. Der große Unterschied: das, was man erinnert, hat man in Wahrheit nie erlebt – man glaubt es nur erlebt zu haben. Professorin Niehaus geht der Frage nach, wie solche Scheinerinnerungen entstehen und sich in unser Gehirn einpflanzen. Sie beleuchtet dabei auch den „Fall Wilkomirski“, einen der fatalsten Skandale der Literatur in den 1990er Jahren.

Sendungshinweis

„Focus“ – Themen fürs Leben bei ORF Radio Vorarlberg, 29. Julie 2023, 13.00 bis 14.00 Uhr

Der Fall Wilkomirski: Scheinerinnerungen in der Praxis

Die Erfolgsgeschichte des Schweizers Binjamin Wilkomirski, der in seiner Biografie „Bruchstücke“ beschrieb, wie er als Kind zwei deutsche Konzentrationslager überlebte, endete abrupt, als er als Hochstapler enttarnt wurde. Doch Professorin Niehaus argumentiert, dass Wilkomirski vermutlich nicht bloß ein Lügner war, sondern Scheinerinnerungen gehabt haben dürfte. Sie sieht den Fall als beinahe typisch für die Bedingungen von Scheintherapien und warnt davor, reflexartig auf die Suche von einem möglichen Kindheitstrauma zu gehen.

Die Verantwortung von Psychotherapeuten

Der Fall Wilkomirski verdeutlicht die große Verantwortung von Psychotherapeuten. Professorin Niehaus, die seit über 20 Jahren die Glaubwürdigkeit von Aussagen beurteilt und sich insbesondere dem Thema Kindesschutz widmet, zeigt zudem die Relevanz von Scheinerinnerungen in Strafverfahren auf. Sie betont, dass es wichtig ist, die Mechanismen und Auswirkungen von Scheinerinnerungen zu verstehen, um Fehlurteile zu vermeiden und die Glaubwürdigkeit von Zeugenaussagen korrekt einschätzen zu können.

Susanne Niehaus
FH Luzern
Prof. Dr. Susanna Niehaus ist Rechtspsychologin und Gerichtsgutachterin

Zur Person:
Susanna Niehaus studierte Psychologie an den Universitäten Osnabrück und Athen und spezialisierte sich auf das Forschungs- und Anwendungsgebiet der Aussage- und Vernehmungspsychologie. Seit 2008 ist sie Professorin an der Hochschule Luzern und leitet dort das Kompetenzzentrum Devianz, Gewalt und Opferschutz. Sie leitet die Spezialausbildung für Ermittlerinnen und Ermittler, welche Kinder befragen, die Opfer einer Straftat geworden sein könnten. Kindesschutz ist ein Schwerpunkt von ihr.