Gerald Knaus
Francesco Scarpa
Francesco Scarpa
„Focus“

Rolle des Rechtsstaats für Flucht und Migration

Italien hat vor Kurzem den Notstand ausgerufen: Bis Mitte April sind bereits 30.000 Menschen über die Mittelmeerroute geflüchtet. Laut UNO ist das eine Zunahme von 305 Prozent gegenüber dem Vorjahr. In „Focus“ spricht Gerald Knaus darum über die Themen Flucht, Migration und die Bedeutung des Rechtsstaates und der Zivilgesellschaft.

Knaus, Gründungsvorsitzender der Europäischen Stabilitätsinitiative (ESI) veröffentlichte 2020 den preisgekrönten SPIEGEL-Bestseller „Welche Grenzen brauchen wir?“. 2022 erschien im Brandstätterverlag sein Buch „Wir und die Flüchtlinge“. In seinem Vortrag beim Montagsforum in Dornbirn sprach er über Flucht, Migration, Rechtsstaat und Zivilgesellschaft.

Flüchtlingsschutz global in der Krise

Der Flüchtlingsschutz sei global in der Krise, denn der Kern der Genfer Flüchtlingskonvention – das Non-refoulement-Gebot (das Nichtzurückweisungs-Gebot) – wird weltweit missachtet, auch in Demokratien. Regelmäßig – in Australien, den USA, Griechenland, Kroatien oder Polen – entscheiden sich Regierungen für Pushbacks. Diese verstoßen zwar gegen nationale und internationale Rechtsnormen, doch werden sie immer weiter normalisiert, auch in der EU.

Österreich hat EU-weit am meisten Asyl vergeben

Doch wenn Gesetze und Konventionen offen missachtet würden und dies geleugnet wird, könne dies nicht ohne Auswirkung auf unsere Demokratien bleiben, sagt Knaus. Denn der Grundwert, der in einer Rechtsgemeinschaft wie der EU alles zusammenhält, sei die Rechtsstaatlichkeit. Der einzige Ausweg aus dieser Abwärtsspirale ist die Verbindung humaner Grenzen und Kontrolle irregulärer Migration mit der geordneten Aufnahme von Schutzbedürftigen. Österreich steche hier heraus, denn entgegen der politischen Rhetorik hat es in den vergangenen Jahren mehr Asyl als jeder andere EU-Staat vergeben.

Sendungshinweis: „Focus“ – Themen fürs Leben bei ORF Radio Vorarlberg, 13. Mai 2023, 13.00 bis 14.00 Uhr

Knaus spricht hier von einem Paradoxon: Entgegen der besonders harten Ansage des einstigen Bundeskanzlers Sebastian Kurz, der als Ziel die Schließung der Balkanroute ausgegeben hatte, hat Österreich besonders vielen geflüchteten Menschen Schutz gewährt.
Im letzten Jahr wurden 109.000 Asylanträge entgegengenommen, mehr als im Jahr 2015 und 2016. Der Migrationsforscher wirft Fragen auf: „Was ist hier passiert? Wie kann das sein? Sebastian Kurz hat doch die Balkanroute geschlossen…“.

Funktionierender Rechtsstaat

Die Erklärung ist einfach: In Österreich funktionierte und funktioniert bis heute der Rechtsstaat. Bemerkenswert ist laut Politikwissenschaftler Knaus auch, dass in diesen Jahren der Bundeskanzler sagte, er habe die Situation unter Kontrolle. Trotz harter Ansagen der Politik haben die Behörden also viel Schutz gewährt und die Bevölkerung hat vielen geflüchteten Menschen Hilfe geleistet. Knaus sieht einen funktionierenden Rechtsstaat und ein Engagement der Zivilgesellschaft.

Europaweit liegt aber vieles im Argen. Gerald Knaus schwebt eine „Vision Zero“ vor, (so nannte Schweden seine Politik im Bereich der Verkehrspolitik): Null Tote war das Ziel der schwedischen Verkehrspolitik: „Ich glaube, wir brauchen so eine Vision für das Sterben im Mittelmeer".

Gerald Knaus
Francesco Scarpa

Zur Person:

Gerald Knaus ist Gründungsvorsitzender der Europäischen Stabilitätsinitiative (ESI). 2021 erhielt er den Karl-Carstens-Preis der deutschen Bundesakademie für Sicherheitspolitik. Der Migrationsforscher ist Gründungsmitglied des European Council on Foreign Relations und war fünf Jahre lang Associate Fellow am Carr Center for Human Rights Policy an der Kennedy School der Harvard University. Nach seinem Studium in Oxford, Brüssel und Bologna lehrte er Wirtschaftswissenschaften in der Ukraine. Er veröffentlichte zahlreiche Publikationen zu den Themen Migration, Rechtsstaatlichkeit in Europa und Flüchtlingsfragen sowie Korruption.