Caritas will Mindestsicherung reformieren

Kinder, Langzeitarbeitslose, Alleinerzieher: Mit ihrer diesjährigen Inlandskampagne rückt die Caritas wieder Menschen am Rande der Gesellschaft in den Mittelpunkt. Ein zentrales Anliegen: Die Mindestsicherung soll „reformiert“ werden.

Ganz hinten in einem Winkel der Fabrikhalle steht Brigitte Matt. Die Frau mit dem schütteren Haar steht an einer Schneidemaschine und zerteilt alte Kleidungsstücke in Putzlappen. Das leise Surren der Maschine ist eines der wenigen Geräusche, die in der Halle des Kleidersortierwerks carla Tex in Hohenems zu vernehmen sind - hier, wo jährlich rund 3.200 Tonnen gespendete Kleidungsstücke sortiert und verkauft oder weiterverwertet werden, als Rohstoffe in der Automobilindustrie oder eben als Putzlappen.

Caritas Pressereise 2016

Maurice Shourot

Arbeiterinnen im Kleidersortierwerk carla Tex in Hohenems

Caritas-Pressereise

Die Caritas lud am 27. Oktober zu einer Pressereise nach Vorarlberg und gewährte Journalisten einen Einblick in ihre Arbeit.

Matt ist erst seit vier Wochen hier. Vor Jahren hat die Steirerin ihren Job verloren - aus gesundheitlichen Gründen, wie sie sagt. Danach ist sie nicht mehr auf dem Arbeitsmarkt untergekommen. Oft sei es an ihrem Aussehen gelegen, sagt Matt. Sie hat nur wenige Haare auf dem Kopf, ein ungewöhnlicher Anblick für eine Frau ihres Alters. Dann, nach zahlreichen Weiterbildungen, habe sie bei carla Tex eine Chance bekommen. Die Stelle ist zwar befristet - für Matt bedeutet sie aber vor allem eines: Hoffnung darauf, wieder auf dem „normalen“ Arbeitsmarkt unterzukommen.

300.000 Kinder und Jugendliche armutsgefährdet

Es sind Menschen wie Brigitte Matt, die die Caritas in den Mittelpunkt ihrer diesjährigen Inlandskampagne stellt: Langzeitarbeitslose, die oft unter unglücklichen Umständen ihren Job verloren haben und sich schwertun, den Weg zurück auf den Arbeitsmarkt zu finden. Sie sind besonders gefährdet, dauerhaft in Armut zu leben. Das trifft auch auf Kinder zu, die aus armen oder armutsgefährdeten Familien stammen - ein weiterer Fokus der Kampagne.

Armutsgefährdet

In Österreich gilt als armutsgefährdet, wer inklusive Transferleistungen weniger als 1.163 Euro pro Monat zur Verfügung hat.

Dass die Probleme nach wie vor groß sind, beweist ein Blick auf die Zahlen: Im wohlhabenden Österreich gelten 1,18 Millionen Menschen als armutsgefährdet, rund 400.000 als „akut arm“. Besonders prekär, auch das ist keine Neuigkeit, ist die Situation vieler Frauen - 476.000 Frauen gelten als armutsgefährdet. Zum Vergleich: 404.000 Männer fallen in diese Gruppe, dazu kommen fast 300.000 Kinder und Jugendliche. Das Armutsrisiko wird nämlich von Generation zu Generation weitergegeben.

Carla Tex: Wiedereinstieg als Ziel

Um an dieser Situation etwas ändern zu können, braucht die Caritas Geld. Geld, das dann an Einrichtungen wie das Kleidersortierwerk carla Tex in Hohenems geht. Bis zu 50 Langzeitarbeitslose finden hier jährlich eine befristete Anstellung. Rechnet man die Mitarbeiter in den carla-Shops in ganz Vorarlberg dazu, beschäftigt das Unternehmen bis zu 300 Personen. Neben der befristeten Anstellung erhalten die Mitarbeiter auch Unterstützung bei der Arbeitssuche. Erklärtes Ziel ist es, den Menschen den Wiedereinstieg in ein geordnetes Arbeitsverhältnis zu ermöglichen.

Caritas Pressereise 2016

Maurice Shourot

Im Schnitt 8,5 Kilogramm Kleidungsstücke spenden die Vorarlberger pro Jahr

Auch Helmut Kerth hat diesen Wunsch. Zehn Jahre war Kerth bei einem großen Technologieunternehmen in Vorarlberg tätig, dann schlitterte er in die Arbeitslosigkeit. Nach drei Jahren Arbeitslosigkeit und über 100 abgeschickten Bewerbungen fand er bei carla Tex eine neue Aufgabe. Nicht einmal ein Vorstellungsgespräch habe er zuvor bekommen. Jetzt presst er alte, gehäckselte Kleidungsstücke mit einer Maschine in 400 Kilogramm schwere Ballen, die dann an Recyclingunternehmen weitergereicht werden. Er sei jetzt „sehr zufrieden“, sagt Kerth.

Landau: „Reformieren, nicht diffamieren“

„Wir dürfen die Not der Menschen auch in Österreich jetzt nicht aus dem Blick verlieren“, sagte Caritas-Präsident Michael Landau am Donnerstag in Feldkirch. Anlass ist die Präsentation der Inlandskampagne der Caritas, neben Landau sitzen Caritas-Bischof Benno Elbs und Walter Schmolly, Direktor der Caritas Vorarlberg. Landau spricht ruhig und präzise wie immer, seine Botschaft ist klar: Die Situation der Menschen an den „Rändern der Gesellschaft“ ist ernst, wer auf ihre Kosten sparen wolle und gar von „sozialen Hängematten“ spreche, habe „von der Wirklichkeit der Menschen keine Ahnung“.

Damit stellt sich Landau auch gegen jene Teile der ÖVP, die eine Deckelung der Mindestsicherung für Geflüchtete und kinderreiche Familien anstreben. Wenig später wird Landau expliziter: Aus kinderreichen Familien Familien mit armen Kindern zu machen, habe „wenig Sinn“: „Da wird mit wenig Einsparung viel Schaden angerichtet. Gerade eine Familienpartei sollte das wissen.“ Gleichwohl erkennt auch Landau einen Reformbedarf bei der Mindestsicherung: „Diese Mindestsicherung gehört reformiert, aber nicht diffamiert!“

Landau fordert Datenaustausch

Landaus Vorstellungen sind durchaus konkret: Die Einbeziehung der Krankenversicherung müsse beibehalten werden, außerdem brauche es einen Datenaustausch zwischen den Sozialbehörden und dem Arbeitsmarktservice (AMS). „Ich kann nicht glauben, dass es zwar möglich ist, eine Sonde auf einem Kometen landen zu lassen, aber ein Datenaustausch zwischen BMS-Behörde und AMS scheint ein Ding der Unmöglichkeit zu sein.“ Und: Wenn die Reform komme, dann könne sie nur bundesweit erfolgen, so Landau.

Caritas Pressereise 2016

Maurice Shourot

Caritas-Bischof Benno Elbs, Caritas-Präsident Michael Landau und Caritas-Vorarlberg-Direktor Walter Schmolly bei der Vorstellung der Caritas-Inlandskampagne am Donnerstag

Außerdem sei es sinnvoll zu überlegen, die Mindestsicherung als einen „Hebel zu einer besseren Integration auszugestalten“. Das Vorarlberger Modell, das die Mindestsicherung an bestimmte Voraussetzungen bindet - den Besuch eines Sprach- und Grundwertekurses sowie den Willen zur Jobsuche - und bei Verweigerung Kürzungen vorsieht, lobte Landau einmal mehr explizit.

Sortierung in 180 Kategorien

Zurück bei carla Tex erläutert Karoline Mätzler, Fachbereichsleiterin Arbeit & Qualifizierung bei der Caritas Vorarlberg, nach welchen Kriterien die einlangenden Kleidungsstücke sortiert werden. Insgesamt 180 Kategorien sind es. Mätzler spricht laut und mit viel Enthusiasmus in der Stimme, man hört ihr gerne zu. Etwa ein Prozent der Kleidungsstücke wird in den carla-Shops im ganzen Land verkauft. Ein anderer Teil der Kleidung geht an Menschen in Not - kostenlos natürlich. Der Rest wird recycelt oder entsorgt.

Mit dem Erlös aus dem Kleidungs- und Textilienverkauf kann sich carla zu 50 Prozent selbst finanzieren. Ein Teil des Geldes fließt in soziale Projekte im In- oder Ausland. Der Rest des carla-Budgets ist spendenfinanziert. Gegen Ende wird Mätzler noch einmal laut: Sie könne das Gerede von der mangelnden Leistungsbereitschaft Langzeitarbeitsloser nicht mehr hören - alle Mitarbeiter von carla würden ihre Leistung bringen. Man nimmt ihr die Aufregung ab.

„Entwicklungschancen stark beeinträchtigt“

Auffallend ist, dass bei carla Tex größtenteils Frauen arbeiten. Sie gehören zu den am stärksten armutsgefährdeten Gruppen in Österreich. „Die Frauen, die sozusagen nach einer Kinderphase wieder den Weg in den Beruf suchen, sind ganz massiv von Armut betroffen“, sagt Judith Marte-Huainigg, Leiterin Grundlagen und Sozialpolitik bei der Caritas. Noch größer wird das Risiko, wenn es sich um alleinerziehende Frauen handelt.

Alleinerzieher

Insgesamt leben 18 Prozent der Kinder österreichweit in armutsgefährdeten Haushalten, bei Kindern von Alleinerziehern steigt das Risiko auf 39 Prozent.

Und: Die Armut wird innerhalb der Familie weitergereicht. Der Stress, den die Erwachsenen beim Bewältigen ihrer Situation haben, übertrage sich „eins zu eins“ auf die Kinder, sagt Marte-Huainigg. Das schlage sich dann in Form eines verminderten Selbstwertgefühls oder diverser gesundheitlicher Einschränkungen nieder. „Und dadurch sind einfach die Entwicklungschancen dieser Kinder stark beeinträchtigt“, so die Expertin. Auch hier hilft die Caritas: Etwa mit Lerncafes für Kinder, damit sie nicht schon in der Schule ins Hintertreffen geraten.

Markus Sturn, vorarlberg.ORF.at

Links: