Als Vorarlberg 60.000 Menschen Schutz bot

Nach dem Zweiten Weltkrieg hat Vorarlberg 60.000 Flüchtlinge versorgt. Danach kamen noch tausende Menschen nach der Ungarnkrise, dem Prager Frühling und der Jugoslawien-Krise. Historiker weisen darauf hin, der Wohlstand Vorarlbergs sei ohne diese Menschen „undenkbar“.

In den Nachkriegwochen 1945 strandeten zigtausend Menschen in Vorarlberg. Sie suchten Schutz oder wollten über Vorarlberg in die Schweiz, um von dort in ihre Heimatländer zurückzukommen, beschreibt der Vorarlberger Historiker Ulrich Nachbaur die damalige Lage. Es waren unterschiedliche Personengruppen: Zwangsarbeiter, die über die Schweiz repatriiert werden sollten, zurückflutende Truppen, Flüchtlinge aus aller Herren Länder. Seit Jahren lebten auch Bombenflüchtlinge aus dem Rheinland oder Wien im Land. Die Bevölkerungszahl war kurzerhand von 150.000 auf 210.000 Einwohner gestiegen, so Nachbaur.

„Ein Fünftel der Bevölkerung waren Flüchtlinge“

Der Historiker Klaus Eisterer von der Universität Innsbruck verweist darauf, dass ein Fünftel der Bevölkerung damals sogenannte „displaced persons“ waren. Das waren Menschen, die nicht nach Vorarlberg gehörten und nicht hier sein sollten oder wollten. Laut Eisterer gab es 25.000 Reichsdeutsche, die während des Dritten Reichs nach Österreich (damals Ostmark) übersiedelt worden waren und nach dem Krieg zu unerwünschten Ausländer wurden. Bei 8.000 Südtirolern war unklar, was mit ihnen geschehen sollte. 12.000 Flüchtlinge aus Ostösterreich, etwa Bombenflüchtlinge und 20.000 weitere „displaced persons“, also Kriegsgefangene, befreite Zwangsarbeiter, KZ-Insassen und Volksdeutsche aus Osteuropa waren unterzubringen.

Versorgung war eine „enorme Leistung“

Laut Nachbaur lag Vorarlberg an den damaligen Flüchtlingsrouten. Rundherum waren die Grenzen zu. Die Menschen waren in die Schweiz unterwegs und strandeten in Vorarlberg. Dass es gelang, alle zu versorgen, beschreibt Nachbaur als große Leistung: „Es war eine enorme Leistung der Landesregierung, zum Teil auch der Militärregierung, dass so viele Menschen überhaupt ernährt werden konnten. Das große Hungerjahr war 1946 und Österreich konnte nur überleben dank Nahrungsmitteln, die die Vereinten Nationen zur Verfügung stellten.“

„Die Besatzungsmächte versorgten vor allem Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter aus ihren Ländern. Sie wurden gut betreut. Die Flüchtlinge aus den Feindstaaten oder ehemaligen Feindstaaten (aus Sicht der Besatzungsmächte), also Österreicher, Deutsche, Italiener und Ungarn waren Aufgabe der Österreicher. Das war natürlich 1945/46 ein großes Problem. Allerdings wusste die Bevölkerung, dass man einen Krieg verloren hat und die Konsequenzen zu tragen sind“, so Nachbaur.

Wohnungsnot führt zu Barackensiedlungen

Nachbauer beschreibt eine große Wohnungsnot bis in die 60iger Jahre. Damals wurden die Menschen zwar nicht in Zelten, aber in Baracken untergebracht. Es herrschte eine rigide Organisation, die auch die Gemeinden traf. Flüchtlinge wurden einfach eingewiesen. Auch in zahlreiche Hotels und Privatzimmer, die leer standen, weil der Tourismus völlig zum Erliegen gekommen war.

„Selbstverständlich kam es auch damals zu Konflikten. Es war nicht die große Solidaritätswelle und alles eitle Wonne. Aber es war eine Situation, mit der man zurechtkommen musste“, so Nachbaur. Man lebte in beengten Verhältnissen. Es machten sich Vorurteile breit. Auch Herzlosigkeit gegenüber Flüchtlingen, die um Milch und Brot bettelten, gab es. Für Nachbaur war vor allem eines anders: „Damals gab es kein Wohlstandsgefälle. Alle mussten darauf achten, sich irgendwie zu ernähren und das Gefälle zwischen Flüchtlingen und Einheimischen war nicht groß.“

Wirtschaftswunder und Arbeitskräftemangel

Nach 1945 gab es drei Flüchtlingswellen: Ungarnkrise 1956 und Prager Frühling 1968, brachten jeweils bis zu 180.000 Flüchtlinge nach Österreich. Nur rund zehn Prozent blieben dauerhaft, denn Ungarn, Tschechen und Slowaken wollten vor allem in die USA.

Gleichzeitig herrschte in Vorarlberg mit dem großen Wirtschaftswunder auch ein großer Arbeitskräftemangel. Das Land war durchaus in der Lage, Menschen aufzunehmen und warb auch gezielt Menschen an, erläutert Nachbaur.

Die nächste Krise war die Jugoslawien-Krise zu Beginn der 90iger Jahre. Von etwa 90.000 Flüchtlingen blieben rund 60.000 in Österreich. Sie flüchteten vor allem zu Bekannten und Verwandten, die in Österreich bereits eine neue Heimat gefunden hatten.

Flüchtlinge trugen zum Wohlstand bei

Nachbaur beschreibt Vorarlberg als ein klassisches Zuwanderungsland seit Jahrhunderten, wo es parallel auch immer Auswanderungswellen gab: „Der Erfolg, den Vorarlberg seit 1945 verbuchen konnte, ist nur denkbar auch durch Menschen, die zugewandert sind und hier ihr Können, ihr Wissen, ihre Arbeitskraft und ihre Lebensfreude eingebracht haben. Anders ist das nicht zu erklären“, unterstreicht Nachbaur.

Eisterer meint, aus der Geschichte sei zu lernen, dass in der Flüchtlingsfrage die Politik gefordert ist. „Heute erreichen im Schnitt etwa 530.000 Flüchtlinge die EU, was auf den ersten Blick nach sehr viel klingt. Aber die EU zählt 500 Millionen Einwohner. Auf 1.000 Europäer träfe ein Flüchtling, wenn es gelänge, Flüchtlinge sinnvoll auf die EU zu verteilen“, schließt Eisterer.

Magda Rädler, vorarlberg.ORF.at