Haller: „Psychotherapie durch Wandern“

Primar Reinhard Haller spricht in der ORF Radio Vorarberg Sendung „Focus - Themen fürs Leben“ über das Wandern als Form der Psychotherapie.

Sendungshinweis:

„Focus“, 11.6.2016, 13.00 bis 14.00 Uhr, ORF Radio Vorarlberg
16.6.2016, 21.00 bis 22.00 Uhr (WH), ORF Radio Vorarlberg

Wenn man sich der Psyche des Menschen nähern will, dann beginnt man in der Zoom-Perspektive bei den großen Dingen: Das ist die Psycho-Geografie. Man meint damit, dass die Landschaft einen Einfluss auf das Gemüt, den Charakter die Wesensart eines Menschen hat.

Die Sendung zum Nachhören:

Der Mensch wird geprägt durch die Landschaft, in der er lebt. Wir können das empfinden, indem wir manche Landschaften als sehr melancholisch oder bedrückend, andere als sehr befreiend, die Augen öffnend empfinden. Die Landschaft trifft auch wesentliche Gefühle.

Focus Reinhard Haller

Reinhard Haller

Reinhard Haller

Natur als Inspiration

Landschaft, Hügel, Berge, Wälder wirken auf uns. Für Reinhard Haller ist es kein Zufall, dass im St. Moritzer-Land oder im Schwarzwald die großartigsten Werke der Philosophie und der Weltliteratur geschrieben worden sind. Es sei auch kein Zufall, dass die Religionsgründer immer wieder die Wüstenlandschaft (auf-)gesucht hätten. Auch das Spiegeln der Reflexionen im Wasser eines Sees habe mit Psycho-Geografie zu tun, so Haller.

Wandern: Die Entsprechungen in der Hirnbiologie

Wandern hat Einfluss auf unsere Hirnabläufe, auf Stoffwechselvorgänge, auf das zentrale Nervensystem und auf die Hirnstrom-Potenziale. Es aktiviert all jene Strukturen, in denen das Belohnungssystem zuhause ist. Wenn man wandert oder eine andere Ausdauersportart macht, kommt es zu einem starken Anstieg des Dopamins und zur entsprechenden Aktivierung eines Hirnareals.

Es gibt wissenschaftliche Untersuchungen, dass die Wirkung des Wanderns nach 35 Minuten gleich stark ist, wie wenn man einen Menschen hypnotisiert oder wenn er das autogene Training beherrscht oder sehr gut meditieren kann. Man kommt in einen entspannten, gelassenen und ruhigen Zustand.

Wandern und die Rückkehr zu natürlichem Leben

Verzicht nimmt nicht, Verzicht gibt.
(Martin Heidegger)

Je künstlicher und stressiger die Welt wird, umso größer wird das Verlangen nach Reduktion und somit nach einem natürlichen Leben: Enthaltsamkeit, Slow Food, sich bewusst, regional ernähren. Slow Travel - ist das langsame Wandern, weil es letztlich den Menschen dorthin zurückführt, wo er künstlich verbogen war, wo er noch nicht technisiert war. Wenn wir uns dem Verzicht ergeben, ist er ein Füllhorn allerersten Ranges, zitiert Reinhard Haller den Philosophen Martin Heidegger.

Wandern und die Aggressionsabfuhr

Der Mensch ist von Natur aus ein hochaggressives Wesen. Die Frage ist: Gelingt es dem Menschen, die Aggression in den Griff zu bekommen, sie zu kultivieren? Die Frage ist weiters, ob daraus positive Energie werden kann - wie im sportlichen Wettkampf, in der wirtschaftlichen Auseinandersetzung oder bei kulturellen Leistungen. Wenn uns das nicht gelingt, kommt es zu negativer Energie, die die Ursache von Depressionen, von Erschöpfungszuständen, von Suchtkrankheiten, von Aggressionen gegen sich selbst im Suizid ist.

Früher hat man in unserer Gesellschaft die Aggressionen natürlich abgeführt: durch körperliche Arbeit, durch lange Fußwege. Wenn sich jemand durch eine regelmäßige Form des Wanderns bewegt, kann er seine Frustrationen, seine Aggressionen abbauen.

Wandern und Meditation

Wandern führt zu gedanklicher Klarheit. Es erhöht die Möglichkeit zu fokussieren in die Versenkung. Wandern hat nicht nur mit dem Wandern in die äußere Welt zu tun hat, sondern nach innen, hinein in unser Inneres. Hier liege ein großes psychotherapeutisches Ideal.

Viele Menschen fehle die Selbstwahrnehmung ihres Körpers: bei Sucht und schweren Schizophrenien. Wandern könne keine Psychosen heilen, es könnten aber die Symptome ein Stück weit gemildert werden.

Wandern und die Ganzheit des Menschen

Durch die regelmäßige und gleichmäßige Bewegung erfahre sich der Mensch, was die Psychotherapie auch erzielen will, dass der Mensch sich im Hier und Jetzt erfährt. Man soll nicht nur in der Vergangenheit oder der Zukunft herumwühlen. Das Wandern habe die Funktion, den Menschen in seiner gegenwärtigen Ganzheit zu treffen. In seinem sozialen Verhalten, bei Gruppenwanderungen, bei Hüttenabenden und Bergerlebnissen, aber auch im psychischen Bereich.

Wandern und Distanzierung

In der Psychotherapie geht es in vielen Fällen darum, dass man sich von alten Fesseln befreit, dass man die Sorgen hinter sich lässt, dass man alten Mustern enteilt, dass man aus Ärger, Emotionen, Gereiztheit heraustreten und dass man sie loslassen kann, dass man Abstand gewinnt, dass man sich befreit und neue Perspektiven entwickelt. Wenn ich um das Haus, in dem ich gerade gestritten habe, herum bin und Distanz dazu gewinne.

Haben Psychotherapie und Wandern dieselben Ziele?

Bindung verbessern - im Wandern bekomme ich eine Bindung an die Natur
Orientierung - Wandern gibt uns Orientierung, weil es uns erdet
Kontrolle - durch Durchalten, durch Training und Disziplin
Lustgewinn - Wandern bingt einen unglaublichen Lustgewinn: längere Wanderungen bringen eine bessere Gestimmtheit
Unlustvermeidung - gegen innere Leere und gegen Angstzustände und gegen Depressionen
Selbstwerterhöhung und Stabilisierung - das Wandern und der lange Weg haben hohe Symbolkraft
Autonomie - indem ich das Tempo selbst bestimme, den Weg selbst wähle, das Ziel selbst bestimme, indem ich die Zeit, in der ich wandern will, selbst festlege

Wandern ist eine Form verschiedener Psychotherapien. Es beinhaltet viele natürliche Psychotherapieverfahren. Hier seien erwähnt: Körpertherapie, Atemtherapie, Gesprächstherapie - beim Wandern stoße ich den inneren, einen stillen Dialog an. Wandern hat ganz eindeutig einen antidepressiven Effekt. Wenn es einem nicht gut geht, empfiehlt Haller eine Wanderung. Er meint, man möge dabei in sich hineinhorchen um festzustellen, ob sich an der Stimmung etwas verändere.

Wandern als Therapie

Wandern habe in der Suchttherapie die eigentliche Etablierung erfahren. Die Sucht ist der falsche Versuch, sich von einem Basisproblem zu heilen. Gegen das Basisproblem der Sucht kann Wandern positiv wirken.

Diesen Vortrag hat Univ.Prof. Dr. Reinhard Haller am 2. Juni 2016 im ORF-Publikumsstudio in Dornbirn gehalten.

Zur Person:

Reinhard Haller - Arzt, Suchtexperte, Suizidforscher, Gerichtspsychiater, Psychotherapeut, Bestsellerautor - ist Chefarzt des Krankenhauses Stiftung Maria Ebene, einem psychiatrisch-psychotherapeutischen Krankenhaus mit dem Schwerpunkt Suchterkrankungen.

Als einer der renommiertesten Gerichtspsychiater Europas wird er immer wieder mit der Begutachtung in großen Kriminalfällen betraut. Er verfasste zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten, vor allem zu den Themen psychische Erkrankungen, Sucht, Selbstmord und Kriminalpsychiatrie.

Literatur:

Reinhard Haller, „(Un)Glück der Sucht - Wie Sie Ihre Abhängigkeiten besiegen“
Reinhard Haller, „Das ganz normale Böse"
Reinhard Haller, „Die Narzissmusfalle"
Reinhard Haller, "Die Macht der Kränkung“

Musik:

G* IGNM MUSIKFEST 2005 - JUGENDKONZERT und WORKSHOP PRÄSENTATION
T* WORKSHOP PRÄSENTATION Martin Grubinger sen. III/LIVE - Applaus 00:16
T* watermelonman

G* INVESTIGATION
T* Slow Walk

T* When You Walk Through Them All
A: Jaakko Eino Kalevi