Erziehungspanik? Abschied vom Perfektionismus

Psychoanalytiker und Schriftsteller Professor Dr. Peter Schneider (Zürich) spricht in der Sendung „Focus - Themen fürs Leben“ über Erziehungspanik und meint damit den Abschied vom Perfektionismus.

Sendungshinweis:

  • „Focus“, 23.4.2016, 13.00 bis 14.00 Uhr, ORF Radio Vorarlberg
  • 28.4.2016, 21.00 bis 22.00 Uhr (WH), ORF Radio Vorarlberg

Die aktuellen Erziehungsratgeber seien Erziehungspanikstiftungsbücher - sie malten immer Horrorszenarien an die Wand, beklagt Peter Schneider. Das Konzept Erziehung stecke in Widersprüchen. Schneider hat mit der Journalistin Andrea Schafroth das Buch „Cool down: Wider den Erziehungswahn“ geschrieben. Es ist ein Aufruf zu einer pädagogischen Abrüstung von „Horror-Ratgeber-Literatur“.

Die Sendung zum Nachhören

Die Idee der Abrüstung

Die Idee der Abrüstung fing mit dem Buch des langjährigen Leiters der Eliteschule Salem, Bernhard Bueb, und seinem Buch „Lob der Disziplin“ an. Dieses Buch habe den Tonfall einer schwarzseherischen Zukunft der Erziehung der Kinder heute und sei ein Bashing der 1960er Jahre. Hier seien der Ausgangspunkt und die Spätfolgen der anitautoritären Erziehung zu finden, so skizziert Schneider den Leitfaden der Erziehungsratgeber der letzten Jahre.

Es sei historisch bestreitbar, ob jetzt wirklich die antiautoritäre Erziehung der 1960er Jahre die Problemstellungen heute ausgelöst habe bzw. dafür verantwortlich sei, sagt Schneider weiter.

Der Allgemeinplatz „Kindern Grenzen setzen“

Man habe auch behauptet, dass man Kidner Grenzen setzen müsse. Das sei ein Allgemeinplatz. Es habe ihn - Schneider - frappiert, wie man die These vom Grenzen-setzen transportiert habe. Es gehe doch darum, mit und für Kinder Grenzen zu überwinden.

Peter Schneider

brueckenbauer.ch

Peter Schneider

„Für Zweijährige sind Treppen,Schwellen oder ein bestimmtes Bedienen von irgendetwas ein Problem.“ Erziehung basiere darauf, mit Kindern zusammenzuleben und ihnen zu zeigen wie das Leben geht und so Grenzen mit ihnen zu überwinden, unterstreicht Schneider.

„Cool down!“

Mit seinem Buch „Cool down - wider den Erziehungswahn“ wolle er die Erziehungsrichtlinien der 2000er-Jahre kritisch beleuchten. Man habe gemeint, den Leuten sagen zu müssen, dass es mit „Durchwursteln“ gar nicht so schlecht gehe. Die Erziehungsbücher waren erfüllt von diesem Ethos der Konsequenz, wenngleich die Situationen im Alltag sowie die Kinder immer sehr unterschiedlich seien - man wisse oft nicht, was konsequent durchzuhalten sei.

Unter dem Aspekt der Konsquenz werde Erziehung eine Aufgabe für einen Verhaltenstherapeuten oder einen Gefängnisaufseher. Man könne nicht sagen, dass sich die Erziehung zum Schlechteren gewandelt habe, hält Schneider fest.

Panikattitüde bei der Ernährung

Es gebe auch in der Ernährung die Panikattitüde, betont Schneider. „In Ernährungsfragen hat sich eine unglaubliche Rigidität eingeschlichen. Es gibt tatsächlich in manchen Familien wegen des Zuckers keinen Geburtstagskuchen mehr.“

Was in der Sexualität liberalisiert worden sei, werde in Ernährungsfragen wieder rigider. Es sei auch ein Zeichen dafür, wie schnell sich Moralvorstelllungen wandeln.

Kinder als Horrorgestalten

In den 1970er-Jahren, mit der Liberalisierung der Erziehung, tauchen Kinder als Protagonisten in Horrorfilmen auf. Schneider zitiert die Filme „Kerry“, „Der Exorzist“, „Damien“, „Das Dorf der Verdammten“. Hier werden Einheitskinder von Außerirdischen gezeugt, mit kalten blauen Augen, die in einem Dorf ihr Unwesen treiben.

Da bereite sich der Tenor für Bücher vor wie jenes von Michael Winterhoff, „Warum unsere Kinder Tyrannen werden“ - oder von Martina Leibovici-Mühlberger, „Wenn die Tyrannenkinder erwachsen werden: Warum wir nicht auf die nächste Generation zählen können“ - quasi, als ob die Kinder die Herrschaft über die Erwachsenen zu übernehmen drohen.

Themen der Jugend, Probleme der Jugend

Man nehme nur Erwachsenenthemen, wie Sexualität oder Alkholismus, Kriminalität, Vergewaltigung - und wenn man vor die einzelnen Begriffe die „Jugend“ davorsetze, werde es etwas ganz Besonderes. Diese Phänomene tauchten zudem nicht zum ersten Mal und in dieser Form auf. Es habe sie in irgendeiner Weise immer schon gegeben, führt Schneider aus.

Schulfach-Lösung?

Bei Problemen werde immer gefordert, eine Sache gleich zum Schulfach zu machen. Man habe sich einem Problem bei Jugendlichen immer mit großer Skandallust zugewandt. Schneider führt folgende Beispiele an: Pornokompetenz, Schuldenprävention, Glück, Schulfach nach Ruhe, Herzmassage. Benimmkurse,Planung, Familie und Erziehung, Schwulsein, Frieden, Kerzenziehen, Schwingen, Umgang mit Alkohol, Demokratie, Sinn des Lebens.

Man wolle damit den Kindern die Lösungskompetenz übertragen, die die Erwachsenen nicht hätten. Kinder und Jugendliche würden dadurch zu Projektionsflächen für die Erwachsenen.

Transmission- Kinder-Erwachsene

Kinder seien nicht über Transmissionsriemen mit den Erwachsenen verbunden. Sie könnten sehr kreativ mit dem umgehen, was man ihnen in die Hand gibt. Das Vorbild etwa komme nicht 1:1 beim Kind an. Zudem sei die Familie anders als die Gesellschaft. „Diese Kluft gibt es und die ist gut, weil wir in einer Gesellschaft nicht mit demselben emotionalen Anspruch herantreten können, wie es ihn in der Familie gibt“, so Schneider.

Zur Person:

Peter Schneider betreibt in Zürich eine eigene Praxis als Psychotherapeut und ist als Dozent, Supervisor und Lehranalytiker in der postgradualen Psychotherapie-Ausbildung der Universität Zürich tätig. Er wirkt seit seiner Habilitation 2004 zudem als Privatdozent für Psychoanalyse an der Universität Bremen. Einem breiteren Publikum ist er als Autor und Sprecher bei Radio SRF 3 (ehemals DRS 3) bekannt.

Aus seiner Feder stammen die satirischen Rubriken „Die andere Presseschau“ und „Brief von Peter Schneider“; zudem ist er der Erzähler in der Hörspielserie Philip Maloney. Daneben erscheinen in mehreren Schweizer Zeitungen wöchentliche Kolumnen von Peter Schneider, unter anderem „P.S.“ in der „SonntagsZeitung“ oder „Leser Fragen, Peter Schneider antwortet“ im „Tagesanzeiger“.

Literatur:

Peter Schneider Andrea Schafroth, Cool down: Wider den Erziehungswahn.

Michael Winterhoff, Warum unsere Kinder Tyrannen werden.

Martina Leibovici-Mühlberger, Wenn die Tyrannenkinder erwachsen werden: Warum wir nicht auf die nächste Generation zählen können.

MUSIK:

T* Kinderspiele / Suite in 4 Sätzen
E* Fang mich / 2.Satz (cut 2) 00:02:13

A: Kinderspielgruppe Klaus Niemayr

T* Look out little Ruth

A: B.B.E.
S: Thomas Lechner/Xylophon

CD* TIMELESS
T* Lamento (no morro)/instr.

S: Sergio Mendes/Piano, Rhodes, Gesang m.Begl.
A: Maogani Quartet/Gitarren