Dr. Eugen Drewermann: Geschichten gelebter Menschlichkeit oder „Vom gastfreundlichen Geben“.

Eugen Drewermann erzählt in dieser Focus-Sendung das Grimm`sche Märchen „Der Arme und der Reiche“ und bietet dafür eine tiefenpsychologische Deutung an.

Sendung zum Nachhören:

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Sendehinweis:

„Focus“, 27.12.12

Der Vortrag wurde im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Wissen fürs Leben“ im Festsaal der Arbeiterkammer aufgezeichnet.

Das Märchen „Der Arme und der Reiche“ ( Auszug)

"Vor alten Zeiten, als der liebe Gott noch selber auf Erden unter den Menschen wandelte, trug es sich zu, dass er eines Abends müde war und ihn die Nacht überfiel, bevor er zu einer Herberge kommen konnte. Nun standen auf dem Wege vor ihm zwei Häuser einander gegenüber, das eine groß und schön, das andere klein und ärmlich anzusehen, und das große gehörte einem Reichen, das kleine einem armen Manne.

Eugen Drewermann

Patmos Verlag

Eugen Drewermann

Da dachte unser Herrgott: „Dem Reichen werde ich nicht beschwerlich fallen, bei ihm will ich übernachten.“ Der Reiche, als er an seine Tür klopfen hörte, machte das Fenster auf und fragte den Fremdling, was er suche. Der Herr antwortete: „Ich bitte um ein Nachtlager.“ Der Reiche guckte den Wandersmann vom Haupt bis zu den Füßen an, und weil der liebe Gott schlichte Kleider trug und nicht aussah wie einer, der viel Geld in der Tasche hat, schüttelte er mit dem Kopfe und sprach: „Ich kann Euch nicht aufnehmen, meine Kammern liegen voll Kräuter und Samen, und sollte ich einen jeden beherbergen, der an meine Tür klopft, so könnte ich selber den Bettelstab in die Hand nehmen. Sucht Euch anderswo ein Unterkommen.“ Schlug damit sein Fenster zu und ließ den lieben Gott stehen. Also kehrte ihm der liebe Gott den Rücken und ging hinüber zu dem kleinen Hause. Kaum hatte er angeklopft, so klinkte der Arme schon sein Türchen auf und bat den Wandersmann einzutreten. „Bleibt die Nacht über bei mir“, sagte er, „es ist schon finster, und heute könnt Ihr doch nicht weiterkommen.“ Das gefiel dem lieben Gott, und er trat zu ihm ein. Die Frau des Armen reichte ihm die Hand, hieß ihn willkommen und sagte, er möchte sich’s bequem machen und vorliebnehmen; sie hätten nicht viel, aber was es wäre, gäben sie von Herzen gern. Dann setzte sie Kartoffeln ans Feuer, und derweil sie kochten, melkte sie ihre Ziege, damit sie ein wenig Milch dazu hätten. Und als der Tisch gedeckt war, setzte sich der liebe Gott nieder und aß mit ihnen, und die schlichte Kost schmeckte ihm gut, denn es waren vergnügte Gesichter dabei. Nachdem sie gegessen hatten und Schlafenszeit war, rief die Frau heimlich ihren Mann und sprach: „Hör’, lieber Mann, wir wollen uns heute nacht eine Streu machen, damit sich der arme Wanderer in unser Bett legen und ausruhen kann; er ist den ganzen Tag über gegangen, da wird einer müde.“

„Von Herzen gern“, antwortete er, „ich will’s ihm anbieten“, ging zu dem lieben Gott und bat ihn, wenn’s ihm recht wäre, möchte er sich in ihr Bett legen und seine Glieder ordentlich ausruhen. Der liebe Gott wollte den beiden Alten ihr Lager nicht nehmen, aber sie ließen nicht ab, bis er es endlich tat und sich in ihr Bett legte; sich selbst aber machten sie eine Streu auf die Erde. Am andern Morgen standen sie vor Tag schon auf und kochten dem Gast ein Frühstück, so gut sie es hatten. Als nun die Sonne durchs Fensterlein schien und der liebe Gott aufgestanden war, aß er wieder mit ihnen und wollte dann seines Weges ziehen. Als er in der Tür stand, kehrte er sich um und sprach: „Weil ihr so mitleidig und fromm seid, so wünscht euch dreierlei, das will ich euch erfüllen.“ Da sagte der Arme: „Was soll ich mir sonst wünschen als die ewige Seligkeit und dass wir zwei, solange wir leben, gesund dabei bleiben und unser notdürftiges tägliches Brot haben; fürs dritte weiß ich mir nichts zu wünschen.“ Der liebe Gott sprach: „Willst du dir nicht ein neues Haus für das alte wünschen?“ -„0 ja“, sagte der Mann, „wenn ich das auch noch erhalten kann, so wär’ mir’s wohl lieb." Da erfüllte der Herr ihre Wünsche, gab ihnen nochmals seinen Segen und zog weiter.......“

Menschen brauchen einen Asylraum der Gnade

Menschen brauchen einen Asylraum der Gnade, der Vergebung, eine Stätte , an der man nicht fragt, was hast du getan, sondern wie bist du dahin gekommen; in der man nicht fragt, wie bist du dahin gekommen, sondern was ist in dir vorgegangen, dass es so kommen konnte.
Erst wenn wir die Menschen sehen, wie die Hände zittern, eh sie sich zu Fäusten ballen, werden wir begreifen, was Menschen weit weg von dem trägt, was sie in sich als gut durchaus spüren.
das Problem ist niemals, dass sie es nicht wollen, sondern dass sie es wirklich nicht können. Menschen können im Sinne Martin Luthers nur so gut sein, was sie als Güte selbst erlebt haben.
Das müsse man sehen; weil sonst reklamieren die Menschen ihr Gut-sein mit dem Anspruch auf Gerechtigkeit.

Märchen vermitteln tiefe Weisheiten

Märchen vermitteln tiefe Weisheiten, sagt Eugen Drewermann, auch über Gott. Gott und die Gerechtigkeit sind Thema der Grimm‘schen Märchen, die Eugen Drewermann auslegt. Er ist überzeugt: „Wir brauchen die Märchen als Erwachsene dringender als wir sie als Kinder
brauchten.” Über Gott kann man viel sagen, doch entscheidend ist, was jemand tut, meint die Geschichte „Der Arme und der Reiche“.

Den Göttern dankbar sein für jene Wünsche, die sie nicht erhört haben

Der Gott in den Märchen greift wie der Gott in der Bibel nicht ein, sondern überlässt dem Menschen genau dem, was er will.
Die Menschen sollten am meisten dafür dankbar sein für jene Wünsche, die die Götter nicht erhört hätten, zitiert Eugen Drewermann den griechischen Philosophen Epikur.
Epikur meinte, hätten die Götter die Wünsche der Menschen erhört, existierten sie gar nicht mehr, sooft hätten sie einander den Tod gewünscht, dass ihrer kein weiterer mehr sei.

Menschen können nur so wünschen wie sie sind.
Dann sind Menschen, die von Natur aus gütig sind, fähig, dass Wünsche, die in Erfüllung gehen sie glücklich machen.
Andere können eigentlich nur wünschen, was sie ins Elend treiben muss, sagt Drewermann.

Im Märchen der Armen und der Reiche ist jemand ganz dicht dabei, sein großes Glück machen zu können und dann merkt er, dass es hinten und vorne hochgeht, als ob sein Pferd bockig werde.
Auch eine psychologische Struktur auf dem Weg zum Reichtum, die innere Unruhe, das Durcheinander, da wird uns allen gehen in dieser Weise, wenn wir nicht aufpassen.

Das zusammengebrochene Pferd ist der Kollaps der gesamten Vitalität und Physis, nach Eugen Drewermann, um zu verstehen, warum das Pferd plötzlich tot am Boden liegt und der im Sand liegende Reiche ganz genauso.

„Gelebte Religion“

Die Frage sei, wie wir die Armut, die wir alle in uns tragen, umwandeln in ein Erbarmen; die Gebrüder Grimm hätte es MITELID genannt. Mit dem Leid der Anderen. Der Philosoph Schopenhauer meint mit MITLEID nicht die Herablassung, sondern die Wahrhaftigkeit der Erkenntnis, ganz da, wo der andere sich befindet, sich selber sein zu können; ein Akt der Identifikation, also der wesenhaften Verbundenheit im Kern unserer eigenen Existenz. Das verbindet Eugen Drewermann mit gelebter Religion, wie wir Gott finden oder verfehlen.

Zur Person

Dr. theol. Eugen Drewermann, geboren 1940, ist wohl der bekannteste Theologe der Gegenwart. Nach Entzug seiner Lehrerlaubnis und Suspension vom Priesteramt arbeitet er als Therapeut und Schriftsteller. Zahlreiche Buchpublikationen, darunter zahlreiche Märcheninterpretationen.

Literatur

Eugen Drewermann.
Geschichten gelebter Menschlichkeit oder Wie Gott durch Grimm`sche Märchen geht.
Patmos.

Musik

CD Christmastime von den Swingle Singers