Rätselraten um Fehlbildungen im Bregenzerwald

Vorarlbergs Umwelt- und Gesundheitsbehörden stehen vor einem Rätsel: In den Bregenzerwälder Gemeinden Lingenau und Langenegg ist die Zahl jener Kinder, die mit Fehlbildungen zur Welt kommen, auffallend hoch. Untersuchungen sollen jetzt für Klarheit sorgen.

Die Bewohner von Lingenau und Langenegg sind verunsichert: Von 600 Kindern, die in den vergangenen 33 Jahren in den beiden Gemeinden zur Welt gekommen sind und nun erneut untersucht wurden, weisen 15 teils schwere Fehlbildungen der Extremitäten oder der inneren Organe auf. Besonders auffällig sind sechs Fälle von sogenannten Dysmelien.

Bei der Dysmelie handelt es sich um eine angeborene, äußere Fehlbildung. Betroffen sein können eine oder mehrere Gliedmaßen.

Die Symptome dieser Erscheinungsform erinnern an den Contergan-Skandal der 1960er-Jahre: Fehlbildungen von Armen und Beinen, von Händen und Füßen. Laut internationalen Studien ist etwa eines von 20.000 Neugeborenen davon betroffen. In der besagten Bregenzerwälder Region ist es jedoch eines von 100.

Grund- und Trinkwasser untersucht

Diese auffällige Häufung an Fehlbildungen veranlasste erstmals vor eineinhalb Jahren eine betroffene Familie in Lingenau, sich an die dortige Bürgermeisterin zu wenden. Diese schaltete umgehend die Gesundheitsbehörden ein – die plötzlich hellhörig wurden, wie Gesundheitslandesrat Christian Bernhard (ÖVP) erklärt: „Die vergleichsweise hohe Fallzahl und auch die Besorgnis der dortigen Bevölkerung haben uns veranlasst, diesem Phänomen auf den Grund zu gehen und nach den Ursachen zu forschen.“

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Häufung von Fehlbildungen

Im Beitrag sehen Sie: Annette Sohler, Bürgermeisterin Lingenau; Christian Bernhard, Gesundheitslandesrat ÖVP

Als erste Maßnahme wurden in Langenegg und im noch stärker betroffenen Lingenau Grundwasser und Trinkwasser, die großteils aus denselben Quellen gespeist werden, einer umfangreichen chemischen Analyse unterzogen. Gesucht wurde nach radioaktiven Substanzen, schädlichen Rückständen aus der Landwirtschaft und anderen Wirtschaftsbetrieben, Schwermetallen und anderen Umweltgiften, die die embryonale Entwicklung schädigen können. Gefunden wurde nichts, das Trinkwasser sei von bester Qualität, bestätigt Walter Wohlgenannt, Leiter des Umweltinstituts des Landes.

Bernhard: „kriminalistischer“ Spürsinn gefragt

Wenn aber die hohe Zahl an Fehlbildungen nicht auf Schadstoffe im Wasser zurückzuführen ist – worin könnten dann die Ursachen dafür liegen? Dazu erklärt Landesrat Bernhard: „Wir versuchen nun beispielsweise herauszufinden, welche Medikamente in der betreffenden Zeitspanne eingenommen wurden – vielleicht ergibt sich daraus eine Antwort. Ebenso untersucht werden mögliche genetische Ursachen, Verwandtschaften und anderes. Da müssen wir mit viel kriminalistischem, medizinischem Spürsinn dahinter.“

Expertengruppe eingesetzt

Also wurde eine Expertengruppe aus einem Kinderarzt und einem Genetiker vom Landeskrankenhaus Feldkirch sowie einem Gynäkologen vom Arbeitskreis für Vorsorge und Sozialmedizin – kurz AKS – damit beauftragt, einen Fragebogen für die betroffenen Familien zu erarbeiten. Damit werden derzeit – in anonymisierter Form – Fragen zu Lebensgewohnheiten, Verwandtschaftsverhältnissen, Arzneimittelkonsum, Krankheitsfällen und vielem mehr abgeklärt.

Laut dem Bregenzer Frauenarzt Hans Concin, Mitglied dieser Expertengruppe, lässt sich aber auch nach einer ersten Auswertung der Fragebögen noch immer keine klare Ursache für die Fehlbildungen erkennen. Nun sollen die Unterlagen in der Hoffnung auf Aufklärung an ein deutsches Spezialinstitut geschickt werden. Sowohl Gynäkologe Concin als auch Landesrat Bernhard erwarten noch in diesem Sommer erste entsprechende Ergebnisse aus Frankfurt.

Nur statistische Ausreißer?

Auch Annette Sohler, Bürgermeisterin von Lingenau, wo bisher fünf der insgesamt sechs Fälle von Dysmelie aufgetreten sind, wünscht sich rasche Antworten: „Die Gemeinde – und das gilt auch für Langenegg – und der Gemeindevorstand sind informiert, dort wo es Besorgnis gibt, wurde entsprechend informiert, und mit den betroffenen Familien stehen wir in engem Kontakt.“

Für Sohler ist es zunächst einmal wichtig, dass das Trinkwasser nicht die Ursache für die hohe Zahl der Fehlbildungen ist. Sie ist nun auf zwei Antworten gefasst: „Entweder man findet eine Ursache dafür, dann können wir hoffentlich auch entsprechend darauf reagieren, oder man findet keine. Dann kann es sein, dass es sich nur um statistische Ausreißer handelt.“

Letzteren Punkt bestätigen auch Concin und Bernhard: Es könne durchaus sein, dass weder genetische noch umweltbedingte Ursachen für die hohe Zahl an Fehlbildungen verantwortlich sind. Eine zufällige statistische Häufung sei nicht ausgeschlossen. Vorerst müsse man aber die Ergebnisse aus Deutschland abwarten.

Andreas Feiertag, ORF Vorarlberg