Reinhard Haller im Interview
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Soziales

Haller: Müssen das Männerbild anders gestalten

Der bekannte Vorarlberger Psychiater Reinhard Haller hat ein Buch über den Hass geschrieben. Im ORF-Interview erklärt Haller diese „primitivste Emotion“. Er nimmt Stellung zum Hass im Netz und zu den Gewalttaten an Frauen – und plädiert für ein anderes Männerbild sowie dafür, dass jeder Mensch bei sich selbst anfängt, den Hass zu bekämpfen.

ORF: Herr Haller, Sie sagen, der Hass ist der Gegenpol zur Liebe und gehört zur psychischen Grundausstattung. Also ist hassen irgendwie doch etwas „Normales“??

Das Interview mit Reinhard Haller hat Patricia Lipburger-Rehm geführt.

Haller: Der Mensch hat in sich gute und böse Anteile. Eines kann ohne das andere nicht sein. Die Liebe ist das Beste, was es im Menschen gibt. Und das Gegenteil davon ist der Hass. Und darum ist der Hass auch die schlechteste Emotion, die wir überhaupt haben.

ORF: Das hört man auch in Ihrem Buch heraus, dass der Hass definitiv die schlechteste Emotion ist, die in der Geschichte der Menschheit aber schon immer eine große Rolle gespielt hat.

Haller: Tatsächlich ist es so, dass alle anderen Emotionen auch ihre guten Seiten haben. Rache dient also beispielsweise dem Wiederherstellen des Gerechtigkeitsgefühls. Rache kann ja auch „süß“ sein. Wut tut bekanntermaßen gut. Und selbst der Narzissmus, der heute so oft angeprangert wird, dient ja dazu, dass wir letztlich Selbstvertrauen haben und uns durchsetzen können.

Beim Hass findet man Derartiges nicht. Er ist eine sehr primitive Emotion, die über alles andere drüber fährt. Wir müssen uns, wenn wir hassen, nicht mit Gefühlsduseleien und auch nicht mit Gefühlsdifferenzierungen auseinandersetzen, nicht mit der Empathie und auch nicht mit logischen Argumenten. Der Hass ist einfach stärker und schießt immer dann ein, wenn der Mensch sich ohnmächtig und hilflos fühlt, wenn er nichts anderes mehr hat als diesen primitiven Mechanismus.

ORF: Man hat das Gefühl, diese Art von Emotion häuft sich in unserer Gesellschaft, um nicht zu sagen, sie läuft aus dem Ruder. Ist das eine subjektive Wahrnehmung?

Haller: Ich weiß nicht, ob der Hass in unserer Zeit tatsächlich häufiger geworden ist. Tatsache ist, dass es neue Formen des Hassens gibt, die von ihrer Zahl her also wahrscheinlich viel alltäglicher auftreten als das beim Hass früher der Fall war. Ich denke hier an den Hass im großen Netz, der ja Millionenfach jeden Tag vorkommt. Ich denke aber auch an den Ausländerhass, ein Hass gegen die Minderheiten und ganz aktuell leider auch der Hass gegen Frauen.

ORF: Diesbezüglich häufen sich die Vorfälle gerade auch in Österreich, wir verzeichnen allein bis Ende August österreichweit 25 Tötungen.

Haller: Ich glaube also tatsächlich, dass die Motive der Frauenmorde sich geändert haben. Früher hat es auch Frauenmorde gegeben, Sexual-Tötungen, Mord an alten wohlhabenden Frauen, die man überfallen hat, auch viel, viel häufiger sogenannte Affekt-Delikte, wo man miteinander gestritten hat und die Emotionen hochkochten. Und am Höhepunkt hat dann der Mann zum Messer gegriffen. Heute haben wir es sehr mit hasserfüllten Mord-Motiven zu tun, bei denen auch Rache eine große Rolle spielt.

Das heißt, die heutigen Täter, die bringen sich nachher nicht einmal um. Ich sage das durchaus nicht zynisch, sondern sie stehen quasi zu ihrer Tat und sagen: „Der ist es recht geschehen.“ Und dahinter steckt in sehr vielen Fällen – neben den üblichen männlichen Motiven, wo es um Machtausübung geht – sehr häufig dieses Gefühl, ich werde nicht mehr geliebt, ich bekomme nicht das, was mir eigentlich zustehen würde. Das will man sich mit aller Gewalt erzwingen. Man erhält es dann erst recht nicht – und dann greift man eben zu diesem primitiven Mittel des Hasses, der dann letztlich hinter all diesen Taten steht.

ORF: Was sollte ein Mann tun, wenn er merkt, sein Hass wird gefährlich für andere? Gilt natürlich auch für Frauen, denn auch diese, wenn jedoch verhältnismäßig sehr gering, sind zu solcher Art „Hass-Taten“ fähig.

Haller: Natürlich gibt es auch Tötungen von Männern durch Frauen, das Verhältnis liegt aber ungefähr bei neun zu eins. Also tatsächlich sind die Männer die viel, viel aggressiveren Wesen, die viel, viel weniger differenzierten, die zu diesem Trieb der Grausamkeit, wie der Hass auch bezeichnet wird, viel häufiger greifen.

Und tatsächlich ist es so, dass man bei all diesen präventiven Maßnahmen, die es ja schon gibt, dass man hier – glaube ich – viel mehr auf Täterseite ansetzen müsste. Nicht um Verständnis zu erzeugen, sondern um viel mehr zu erfassen: Was geht in den Tätern vor? Wie kommen wir an sie heran? Wann ist es besonders gefährlich? Und besonders gefährlich ist es immer dann, wenn das Gespräch abgebrochen ist. Wenn der Täter, der ja vielleicht doch ein stückweit hilfloser ist – ich will das nicht entschuldigend sagen, sondern nur, wie er es erlebt – dass der quasi nicht „gezwungen“ wird, zu diesem Primitiv-Mechanismus des Hasses zu greifen.

Psychologe Haller über Hassverbrechen

Gerichtsgutachter und Psychologe Reinhard Haller über Hassverbrechen, die immer brutaler werden, und über zerstörerischen und gefährlichen Hass im Netz.

ORF: Müsste das aus dem Umfeld kommen? Dieser Anstoß, dass man Hilfe braucht?

Haller: Ich glaube, es bräuchte eine gesamtgesellschaftliche Änderung. Die kann man natürlich nicht von heute auf morgen erzwingen. Aber es müsste eben möglich sein, dass Männer nicht mehr dieses Bild haben, dass sie keine Fehler machen dürfen, dass sie keine Schwächen zugeben. Sondern sie müssen darüber sprechen können. Dann wird der Hass auch ein Stück weit entschärft.

Es geht im Weiteren darum, dass die Frauen sich durchaus wehren, dass sie die Möglichkeiten ergreifen, die wir ja haben bis hin zur Anzeige – und auch dann dabei bleiben. In vielen Fällen ist es so, dass es zwar zu einer Anzeige kommt – häufig auch mit einem gewissen Bauchgefühl, man wird eh nichts machen können, wenn nichts passiert ist. Aber dass dann die Frauen die Anzeige wieder zurückziehen. Und dadurch verhindern sie natürlich, dass der Täter zunächst einmal einen Schuss vor den Bug bekommt.

Zu Gast bei „Neues bei Neustädter“
Reinhard Haller war am Montag auch zu Gast in der ORF Radio Vorarlberg-Sendung „Neues bei Neustädter“ – nachzuhören im Podcast

ORF: Man müsste also im Vorfeld einfach viel schneller agieren, bevor es soweit kommt?

Haller: Wir kennen in der Kriminologie, dass manche Delikte einfach eine gewisse Mode haben, ihre Zeit haben. Das war früher bei den Flugzeugentführungen so und das war im letzten Jahrzehnt bei den Terroranschlägen so und jetzt leider bei den Frauen-Tötungen.

Und das Problem ist natürlich schon ein bisschen, je mehr wir drüber sprechen – und wir müssen ja drüber sprechen – aber desto mehr werden natürlich potenzielle Täter auch angeregt, sozusagen zu dieser Methode zu greifen. Das findet man in der Praxis übrigens auch sehr häufig, dass die Opfer sagen: Letztlich hat er mir gedroht, ich mache es mit dir gleich, wie es da kürzlich diesen Fall gegeben hat.

ORF: Also zu viel darüber reden kann auch kontraproduktiv sein…

Haller: Ich glaube, wenn man in der Öffentlichkeit zu viel darüber redet – das ist natürlich erforderlich, das ist klar – aber es tritt dann auch immer diese berühmte „Werther-Effekt“ ein. Das heißt also, wenn man über Suizide sehr viel redet, dann weiß man, dass es zu einer gewissen Nachahmungswelle kommt. Und das ist zweifelsohne eine schwierige Gratwanderung.

Aber wir müssen auf der einen Seite das Männerbild etwas anders gestalten. Der Mann, der auch weich sein darf, der Emotionen haben darf, der Niederlagen verkraften muss – und auf der anderen Seite die Empathie fördern. Die geht in unserer Gesellschaft sehr stark verloren. Und Hass hat natürlich immer mit dem Zug von Empathie zu tun. Also Empathie hat da keinen Platz mehr, wenn der Hass beginnt. Und es ist wichtig, dass wir eben auch den Hass entblättern, dass wir ihn als das darstellen, was er ist, nämlich eine ganz dunkle, primitive Leidenschaft.

Buch „Die dunkle Leidenschaft“ – Wie Hass entsteht – Buch von Haller
Haller

ORF: Hass im Netz ist ein riesengroßes Thema. Auch das Beschuldigen und Beschämen kann sehr zerstörerisch sein…

Haller: Wir haben ja im heurigen Sommer gesehen, dass durch Hass im Netz Menschen in den Tod getrieben werden können. Es gibt immer wieder Suizid-Fälle gerade bei jungen Menschen, die sich einfach durch Hasstiraden im Netz derartig entblößt fühlen, derartig beschämt fühlen, dass sie unter diesen Bedingungen nicht mehr weiterleben wollen. Dazu muss man vielleicht sagen, das ist ambivalent zu betrachten, weil auf der einen Seite ist natürlich das große Netz auch ein gewisses Ventil, ein gewisser Puffer für Hass. Und wie Sie sagen, es ist wahrscheinlich schon besser, wenn er virtuell ausfällt, als wenn es zu blutigen Attacken kommt.

Auf der anderen Seite ist natürlich der Hass im Netz etwas, was täglich vorkommt, wo man nicht mehr jemanden an den Pranger stellen kann, in irgendeinem Stadtteil für drei Tage, sondern weltweit, möglicherweise für alle Zeiten, in einer Art und Weise ihn beschämen kann, wie es heute die Menschen als besonders schmerzhaft erleben im Internet. Und schließlich, dass die Täter ja hier ein ideales Medium finden, denn sie müssen sich nicht dem stellen, sie müssen nicht einmal ihre Identität preisgeben, und sie können dadurch sozusagen ihren ganzen bösartigen Eiter hinauslassen, ohne dass sie Konsequenzen tragen müssen.

ORF: Wie könnte man dem entgegenwirken in der Zukunft?

Haller: Ich glaube, es liegt hier zum einen Teil auf Seite der Anbieter dieser großen Foren, dass sie einfach überlegen: Wie können wir so hassvolle Botschaften herausfiltern? Auf der anderen Seite, dass man möglicherweise versucht, den Usern bewusst zu machen, dass ich nicht ein besonders starker Mann bin, wenn ich möglichst bösartige, aggressive, zerstörerische Botschaften rauslasse, sondern dass das eigentlich ein Zeichen von Schwäche ist. Ich trau mich das schon zu sagen, obwohl ich auch für deinen Hass Sturm ernten werde. Diese „Internet-Hater“ sind im Prinzip gehemmte Feiglinge, die sich nicht trauen, zu ihrer Aggressivität zu stehen.

ORF: Können wir als Gesellschaft etwas tun? Oder ist es eher utopisch, dass da jeder irgendwie mitwirken kann?

Haller: Der Hass im Netz ist natürlich ein internationales Problem und ich denke, auch für die Politiker eine ganz große Herausforderung. Ich beneide sie da nicht, denn wir müssen diese Gratwanderung gehen, dass auf der einen Seite das Netz nicht ein rechtsfreier Raum sein darf. Dass es dort also auch gilt, die menschliche Ehre zu bewahren, dass man dort nicht drohen, dass man dort nicht kinderpornografische Darstellungen verbreiten darf.

Auf der anderen Seite muss aber bewusst sein, dass diese Gesellschaft, die auf einem sehr hohen Aggressionspotenzial sitzt, sich nicht mehr durch körperliche Arbeit abreagieren kann. Dass sie letztlich auch ein Feld braucht, wo es mit diesen Aggressionen hineingeht. Und das ist nun einmal das Internet. Wie gesagt, es ist eine schwierige Aufgabe. Aber ich bin überzeugt davon, dass man hier schon zu besseren Lösungen kommen kann.

Die andere Seite ist eben jene, dass man bei all diesen großen gesellschaftlichen Emotionen immer bei sich selbst beginnen muss. Das hat natürlich im Kleinen damit zu tun, dass ich beispielsweise überlege: Habe ich jetzt die Kränkungs-Grenze meines Mitmenschen überschritten? Habe ich möglicherweise jemanden beleidigt? Manchmal geschieht das auch, ohne dass man das wirklich will. Dass man sich vielleicht überlegt: Was hat es mit meinen Zynismen auf sich? Zynismus ist auch Ausdruck einer sehr starken Aggression letztlich in intellektualisierter Form.

Und dass man letztlich das pflegt, wovon der große Physiker Stephen Hawking gesagt hat: Es wird das Überleben der Menschheit davon abhängen – die Empathie, wo wir die retten können. Denn das ist das, was nur der Mensch kann und nicht eine Maschine oder ein humanoider Roboter.

ORF: Glauben Sie daran, dass wir das können?

Haller: Ich glaube nicht an raschen Erfolg. Ich muss ehrlich sagen, ich weiß auch nicht, wie man beispielsweise diese Welle an Frauenmorden durchbrechen kann. Das ist sehr schwierig. Ich bin aber überzeugt davon, dass man mittelfristig schon die menschliche Befindlichkeit, das menschliche Fühlen und Wollen, doch in eine positive Richtung wenden kann. Ich glaube, es geht hier um das uralte menschliche Entwicklungsproblem, nämlich: Wie gehen wir mit der primitiven Emotion – und Hass ist die primitivste – wie gehen wir mit der in kultivierter Form um?

Hilfe im Krisenfall

Berichte über (mögliche) Suizide und Suizidversuche können bei Personen, die sich in einer Krise befinden, die Situation verschlimmern. Die Psychiatrische Soforthilfe bietet unter 01/313 30 rund um die Uhr Rat und Unterstützung im Krisenfall. Die österreichweite Telefonseelsorge ist ebenfalls jederzeit unter 142 gratis zu erreichen.