Arbeitsminister Martin Kocher
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Politik

Inflation spielt Rolle beim Arbeitslosengeld

Arbeitsminister Martin Kocher wollte die Reform des Arbeitslosengeldes eigentlich schon präsentieren. Nun dürfte es bis Herbst dauern – die Bundesregierung ist sich noch nicht überall einig. Auch die Inflation spiele bei den Gesprächen über das Arbeitslosengeld eine Rolle, sagt Kocher im Interview mit dem ORF Vorarlberg.

Am Rande seines Besuchs bei den Bregenzer Festspielen sprach Kocher mit dem ORF auch über die Grenzen des Wachstums, Potenziale auf dem Arbeitsmarkt und die interessante Situation, dass die Unternehmen pessimistisch in die Zukunft blicken, obwohl die Auftragsbücher voll sind.

ORF Vorarlberg: Eine Umfrage der Vorarlberger Industriellenvereinigung hat gezeigt, dass die Unternehmen so pessimistisch sind wie seit 2012 nicht mehr. Ist dieser Pessimismus gerechtfertigt?

Kocher: Ich verstehe, dass viele Unternehmen pessimistisch sind. Wir haben einen Krieg in Europa, fast vor unserer Haustür und wir wissen nicht, wie es weitergeht. Dadurch ist die Stimmung in der Industrie oder auf dem Bau nicht gut. Glücklicherweise ist sie noch relativ gut, was den privaten Konsum betrifft. Aber wir befinden uns in einer schwierigen Lage, auf die auch die österreichische Republik wenig Einflussmöglichkeiten hat. Vieles wird geopolitisch entschieden und vieles muss die EU entscheiden. Die Wachstumsaussichten sind in Österreich nicht mehr so gut wie vor einigen Monaten.

ORF Vorarlberg: Ist man da als Bundesregierung einfach ein bisschen Getriebener der globalen Situation?

Kocher: Man muss ganz ehrlich sagen, dass in Österreich nicht alles entschieden werden kann. Wir hängen davon ab, wie sich die Lage in der Ukraine weiterentwickelt und wie die Europäische Union ihre Entscheidungen trifft. Aber wir können einiges tun, um die schlimmsten Effekte abzufedern. Das tun wir vor allem, was die Inflation betrifft. Und noch wichtiger ist es, sich gut auf den Herbst und Winter vorzubereiten. Da geht es darum, Gas zu speichern und zu diversifizieren, was die Lieferquellen betrifft. Beides passiert. Ich hoffe, dass wir für diesen Winter sehr gut vorbereitet sind.

Arbeitsminister Martin Kocher im Gespräch mit ORF-Redakteur Michael Prock
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ORF Vorarlberg: Die Schere zwischen Pessimismus und der aktuellen Lage ist relativ groß. Die Auftragsbücher sind nämlich voll. Wie lange wird diese positive Situation noch dauern?

Kocher: Das hängt von der Entwicklung ab. Es stimmt natürlich, wir haben eine sehr gute Lage. Die wirtschaftliche Entwicklung ist in den meisten Branchen immer noch gut. Die Arbeitslosigkeit ist so gering wie seit 14 Jahren nicht mehr, gleichzeitig haben wir einen Höchststand an offenen Stellen und an Beschäftigten. Das sind eigentlich alles gute Faktoren und sollte uns einigermaßen optimistisch stimmen, auch wenn es im Herbst und Winter schwieriger wird. Politisch gehen wir mit relativ guten Vorzeichen in eine schwierige Zeit. Das wird nicht alles lösen, aber wir hoffen natürlich, dass die schlimmsten Szenarien nicht eintreten.

ORF Vorarlberg: Sie sagen es gerade: So viele sind in Beschäftigung wie noch nie. Aber wie sicher sind die Jobs noch angesichts der globalen Entwicklung?

Kocher: Auch das hängt von der Lage ab. Im Moment sind die Jobs aufgrund der vielen offenen Stellen vergleichsweise sicher. Aber wenn es einen längerfristigen Lieferstopp von Gas gäbe, dann werden viele Unternehmen gezwungen, ihre Produktion einzuschränken oder einzustellen. Das wäre das schlimmste Szenario, aber es kann niemand ausschließen. Dann würden viele Jobs wackeln. Ich bin froh, dass wir die Kurzarbeit verlängert haben. Es würde also Kurzarbeit entstehen und nicht Arbeitslosigkeit.

ORF Vorarlberg: Wir sprechen über Arbeitslosigkeit und Kurzarbeit. Unternehmen reden momentan aber vor allem über das Gegenteil: Ihnen fehlen die Arbeitskräfte. Sind wir an einer Grenze des Wachstums angelangt, weil es einfach keine Menschen mehr gibt, die die Arbeit machen?

Kocher: Wir haben vor zehn Jahren darüber gesprochen, dass uns die Arbeit ausgeht. Jetzt ist das Gegenteil der Fall. Wir haben so viel Arbeit wie nie zuvor. Das ist grundsätzlich positiv. Wir haben aber noch großes Arbeitskräftepotenzial. Deswegen glaube ich nicht, dass uns die Arbeitskraft ausgeht. Wir sind an einer Wende der Zeit, die schwer zu greifen ist. Sie führt psychologisch dazu, dass es sowohl Szenarien gibt, die unglaublich positiv sind, als auch Szenarien, die unglaublich negativ sind. Irgendwas dazwischen wird hoffentlich der Fall sein, aber niemand weiß, wie es im Herbst wirklich aussehen wird.

ORF Vorarlberg: Wie kurzfristig können Arbeitskräfte aktiviert werden?

Kocher: Es gibt viele Möglichkeiten. Aber kurzfristig ist es gar nicht so leicht. Wir haben immer noch Menschen, die in Arbeitslosigkeit sind. Da geht es um Qualifizierungsmaßnahmen. Und wir haben jetzt die Rot-Weiß-Rot-Karte reformiert. Das macht es einfacher, unbürokratischer und schneller möglich, qualifizierte Zuwanderer aus Drittstaaten nach Österreich zu holen. Viele Unternehmen entwickeln zudem Programme oder richten Betriebskindergärten ein, um Potenziale bei Teilzeitbeschäftigten und bei Älteren zu nutzen. Aber es ist um einiges schwieriger, als das noch vor einigen Jahren der Fall war. Ein Beispiel: Der Anteil der jungen Menschen, die in die Lehre gehen, bleibt zwar ungefähr stabil, er liegt bei 15-Jährigen bei rund 40 Prozent. Aber die Zahl der 15-Jährigen wird kleiner. Deswegen haben viele Unternehmen Probleme, den Nachwuchs sicher zu stellen.

ORF Vorarlberg: Auch Flüchtlinge aus der Ukraine gelten als Potenzial für den Arbeitsmarkt. Gleichzeitig sagen manche, dass die Anerkennung der Qualifizierung noch zu lange dauert. Stimmt das?

Kocher: Das hängt sehr von der Branche ab, in der sie arbeiten können und wollen. Wir haben derzeit ungefähr 8.000 bis 9.000 Ukrainer, die eine Beschäftigung haben. Das sind mehr, als es Inhaber einer Rot-Weiß-Rot-Karte gibt. Bei der Anerkennung geht es auch um Sicherstellung der Qualität und der Sicherheit, dass ich einen Service bekomme, den ich brauche. Im Gesundheitswesen zum Beispiel kann man keine Kompromisse machen. Ich weiß, dass sich alle Beteiligten sehr bemühen, diese Prozesse zu beschleunigen.

ORF Vorarlberg: Liegt es nur an der Anerkennung der Qualifikation, dass nicht mehr Ukrainer arbeiten?

Kocher: In vielen Fällen geht es gar nicht so sehr um diese Voraussetzung. Es geht zum Beispiel auch um Kinderbetreuung. Vor allem Frauen sind aus der Ukraine geflohen, sie brauchen eine sichere Kinderbetreuung, auch am Nachmittag. Und der zweite Punkt ist die Sprache. Viele Unternehmen brauchen gewisse Deutschkenntnisse. Wir haben sehr viele Menschen aus der Ukraine in Deutschkursen, um sie auf den Arbeitsmarkt vorzubereiten.

ORF Vorarlberg: Unternehmen stoßen langsam an die Grenzen ihrer Erweiterungsmöglichkeiten. Philipp Blum sagte kürzlich im ORF-Interview, dass sein Unternehmen in Vorarlberg kein neues Werk mehr errichten könne, weil ein Grundstück in dieser Größe fehlt. Sind wir hier an einer natürlichen Grenze des Wachstums angelangt?

Kocher: Ja, je nach Wirtschaftsregion gibt es diese natürliche Grenze. Es gibt aber auch Bereiche in Österreich, wo es noch genug Grund und Boden gibt. Widmungen sind Sache der Länder und Gemeinden, deshalb kann ich nicht allzu viel dazu sagen. Aber klar ist: Es gibt Grenzen des Wachstums. Wir sind in der glücklichen Lage, dass viele Unternehmen in Österreich ihre Standorte ausbauen wollen. Das geht nicht immer, aber sehr häufig. Österreich ist als Standort attraktiv.

ORF Vorarlberg: Kürzlich hat die Bundesregierung bekannt gegeben, dass die Sozialleistung valorisiert, also jährlich an die Inflation angepasst werden. Das Arbeitslosengeld und die Notstandshilfe fallen aber nicht darunter. Wird sich das noch ändern?

Kocher: Wir sprechen ja gerade über eine Reform des Arbeitslosengeldes. Das Arbeitslosengeld wird auf Basis des letzten Lohnes berechnet, und der ist in praktisch allen Bereichen bereits valorisiert. Das Arbeitslosengeld ist auch eine Versicherungsleistung, keine Sozialleistung. Aber wir haben vereinbart, dass im Rahmen der Reform des Arbeitslosengeldes auch über die Frage der Inflation und der Lebenshaltungskosten gesprochen wird. Aber das Hauptziel aus meiner Sicht muss sein, Menschen rasch in Beschäftigung zu bringen. Das ist die beste Armutsvermeidung.

ORF Vorarlberg: Geht sich die Reform bis Herbst noch aus?

Kocher: Ich hoffe sehr, wir sind sehr weit. Wir haben noch einige Modelle, die wir durchrechnen müssen und in der Koalition besprechen müssen.