Er wisse aufgrund seiner Studien in den Niederlanden seit Jahren, wohin der Weg führe, so Lingg im ORF-Interview. „Man ist am Anfang sehr streng und es wird immer mehr erweitert bis am Schluss Lebenssattheit ausreicht, dass man sich dieser Lösung unterwerfen kann. Und da hört es sich für mich natürlich endgültig auf“, so der Psychiater.
Gerade für psychisch Kranke sei diese Regelung „fatal“, so Lingg weiter. Die Suizid-Prophylaxe werde dadurch extrem erschwert. Den meisten psychisch Kranken könne man nachweislich helfen. „Da ist ein Tor geöffnet, das man schwer wieder zu bringt.“ Mit dieser Lösung werde die Gesellschaft „brutalisiert“.

Problem der Fremdbestimmung
Die Fremdbestimmung ist laut dem Gesetzesentwurf immer auszuschließen. „Da wünsche ich viel Glück in einer zunehmend materialistischen Welt, ob man das wirklich so regeln kann, wie sich das die Gesetzgeber vorstellen“, sagt Lingg in Anspielung darauf, dass Druck durch Angehörige entstehen könnte.
Etwa in den Niederlanden sei das legitim und in einer Vielzahl der Fälle so, dass nicht der Betroffene, sondern Angehörige diese Entscheidung fällen. „Das macht das Ganze dann natürlich sehr problematisch“, so Lingg.
„Es gehört zu den größten Bedenken, dass natürlich jemand, der pflegebedürftig ist, der anderen zur Last fällt, der viel Geld kostet, sich dann einmal sagt, ich darf anderen nicht mehr zur Last fallen und diesen sogenannten altruistischen (Anm.: selbstlosen) Suizid sozusagen akzeptiert und das ist natürlich bedenklich.“
Förderung der Palliativbetreuung positiv
Allerdings hätte es nach Ansicht von Lingg noch schlimmer kommen können – nämlich dann, wenn es bis zum 1. Jänner gar keine Regelung gegeben hätte. „Dann wäre das Spiel der freien Kräfte losgegangen“, so der Psychiater, dann hätten die Oberwasser bekommen, die damit letztlich möglicherweise sogar ein Geschäft machen wollten.
Das Gute an dem Gesetzesentwurf sei, dass die Palliativbetreuung und das Hospizwesen massiv gefördert würden – „und das ist genau die Alternative“, so Lingg. „Wenn das klappt, dann brauchen wir diese andere Lösung nicht.“ Was den Einzelfall angehe, sagt Lingg, gebe es keine Lösung, die alle Fälle abdecke.

Bischof Elbs: Möglichkeit erzeugt Druck
Ähnlich äußerte sich auch der Feldkircher Bischof Benno Elbs. Er spricht von einem „erzwungenen Kulturbruch gegen die Menschlichkeit“, der jetzt gesetzlich geregelt werde. Ein Suizidversuch sei oft ein Hilferuf, ein Ruf der Einsamkeit, der Unerträglichkeit des Leids, so Elbs. „Und wenn einer um Hilfe ruft, dann gebe ich ihm normalerweise nicht einen Becher Gift, sondern ich gebe ihm Zuwendung, ich gebe ihm Wertschätzung, ich sage ihm, dass es wichtig ist, dass es ihn gibt und dass ich da bleibe.“
Er halte diese Möglichkeit des assistierten Suizids für ein großes und schwieriges Thema, so Elbs. Die Möglichkeit dazu erzeuge einen inneren Druck und einen äußeren Druck. „Der äußere Druck ist, dass die Gesellschaft sagt, kranke Menschen sind teuer, Menschen mit Behinderung sind teuer, psychisch kranke Menschen sind teuer und ihnen nonverbal sagt, eigentlich ist es besser, wenn du stirbst“, so der Bischof.
„Dimension der Angehörigen nicht bedacht“
Zudem sei es unerträglich für Angehörige, wenn sie von Menschen mit dieser Frage belastet würden, „die sie ein Leben lang nicht mehr loswerden“. Die Dimension der Angehörigen sei bei dem Entwurf nicht bedacht, denn ein Suizid hinterlasse Schuldgefühle und große Wunden bei den Angehörigen.

Caritas-Direktor Schmolly besorgt
Auch der Vorarlberger Caritas-Direktor Walter Schmolly hatte sich bereits kritisch zur Regelung der Beihilfe zum Suizid geäußert, den Ausbau der Palliativbetreuung aber begrüßt – mehr dazu in: Assistierter Suizid: Caritas-Direktor besorgt.
Gesetz nach VfGH-Urteil nötig geworden
Die Bundesregierung hatte sich vergangene Woche auf eine gesetzliche Neuregelung der Sterbehilfe in Österreich geeinigt. Wer Beihilfe zum Suizid in Anspruch nehmen will, kann ab 2022 eine Sterbeverfügung errichten – ähnlich der Patientenverfügung. Der Zugang ist auf dauerhaft schwerkranke oder unheilbar kranke Personen beschränkt. Explizit ausgeschlossen sind Minderjährige. In Apotheken wird ein letales Präparat erhältlich sein – mehr dazu bei news.ORF.at: Beihilfe zu Suizid ab 2022 neu geregelt.
Das neue „Sterbeverfügungsgesetz“ war notwendig geworden, da der Verfassungsgerichtshof (VfGH) das Verbot des assistierten Suizids in Österreich mit Ende 2021 aufgehoben hat – nicht allerdings das Verbot der aktiven Sterbehilfe. Wäre bis zum Jahresende nichts geschehen, so wäre die Beihilfe zum Suizid ab dem kommenden Jahr schlicht erlaubt gewesen. Konservative Organisationen und Religionsgemeinschaften drängten auf eine rechtliche Absicherung, damit es nicht zu Missbrauch kommt.
Kritik an Gesetzesentwurf zur Sterbehilfe
Die Kritik am Gesetzesentwurf zur Sterbehilfe wird immer lauter. Ein Psychiater und und der Diözesanbischof aus Feldkirch teilen „Vorarlberg heute“ ihre Bedenken mit. Der neue Gesetzesentwurf zum assistierten Suizid sieht vor, dass unheilbar Kranke vom Arzt ein Medikament verschrieben bekommen, das in der Apotheke erhältlich sein wird und mit dem sie aus dem Leben scheiden können.
Hilfe im Krisenfall
Berichte über (mögliche) Suizide und Suizidversuche können bei Personen, die sich in einer Krise befinden, die Situation verschlimmern. Die Psychiatrische Soforthilfe bietet unter 01/313 30 rund um die Uhr Rat und Unterstützung im Krisenfall. Die österreichweite Telefonseelsorge ist ebenfalls jederzeit unter 142 gratis zu erreichen.