Simon Burtscher-Mathis, Soziologe
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Pandemie machte bestehende Konflikte sichtbar

Seit über einem Jahr bestimmt das Coronavirus bereits das Leben der Menschen und es gibt kaum einen Bereich des Lebens, der davon verschont geblieben ist. Im Gespräch mit vorarlberg.ORF.at erklärt Soziologe Simon Burtscher-Mathis, wie sich die Pandemie auf das Zusammenleben der Menschen ausgewirkt hat und auswirken wird.

Die Soziologie ist ein sehr großer Fachbereich, deshalb gibt es natürlich auch sehr viele Erkenntnisse aus der Pandemie, erklärt Burtscher-Mathis. Man könne aber sagen, dass die Krise wie eine Lupe sei, die Dinge stärker sichtbar mache, die man vorher schon wahrnehmen konnte.

Für ihn ist besonders der Aspekt interessant, dass strukturelle Ungleichheiten in der Gesellschaft durch die Pandemie deutlich sichtbarer werden als zuvor. Vor allem die Verteilungsfragen zwischen Mann und Frau, zwischen den Generationen oder zwischen den unterschiedlichen sozialen Gruppen würden deutlich werden.

Burtscher-Mathis schließt daraus, dass nicht alle Menschen gleich von der Krise betroffen sind. Zum Beispiel seien einkommensschwächere Gruppen oder Gruppen aus sozial schwächeren Verhältnissen deutlich stärker von den Maßnahmen betroffen als einkommensstarke Familien. Aber auch Frauen seien stärker betroffen als Männer und Kinder und Jugendliche als Erwachsene. Er ist der Meinung, dass genau das jetzt stärker diskutiert werden sollte, denn jetzt gehe es darum, entsprechende Maßnahmen zu setzen, wie man mit den Folgen der Pandemie umgeht.

Nur wenig nachhaltige Veränderungen

Burtscher-Mathis zeigt sich skeptisch in Bezug auf eine nachhaltige Veränderung des Zusammenlebens durch die Pandemie. Grund dafür ist, dass die Menschen nach dem ersten Lockdown, der das Leben doch sehr verändert hat, recht schnell wieder zu alten Routinen zurückgekehrt sind. Natürlich gebe es Ausnahmen wie zum Beispiel die Digitalisierung im Berufsalltag. Trotzdem ist er überzeugt davon, dass die, die es können, wieder zu alten Mustern zurückkehren werden.

Konflikte wurden durch Pandemie sichtbar

Nahezu jeder Mensch hat in seinem Umfeld Personen, deren Ansicht zum Coronavirus bzw. zur CoV-Politik nicht mit den eigenen Ansichten übereinstimmen. Dass es da zu Konflikten kommt ist selbstverständlich und sei in einer offenen, demokratischen Gesellschaft ein ganz normaler Prozess. Diese unterschiedlichen Meinungen hat es laut Burtscher-Mathis aber schon davor gegeben, sie wurden nur nicht sichtbar weil nicht alle Menschen von einer Krise gleichzeitig betroffen waren. Man lebte oft nebeneinander.

Jetzt gab es zum ersten Mal eine Situation, in der alle gleichzeitig von bestimmten Maßnahmen betroffen waren und dementsprechend jeder sich damit auseinandersetzen musste. Und das Thema war omnipräsent, man konnte nicht ausweichen und dann kommt es natürlich auch verstärkt zu Auseinandersetzungen im Alltag, erklärt Burtscher-Mathis. Diese Konflikte sind also nicht durch die Pandemie entstanden, sie kamen nur dadurch hervor.

Streit ohne Beziehungsabbruch muss möglich sein

Auch wenn sich durch die Pandemie Konflikte ergeben haben, ist es für Burtscher-Mathis wichtig, den Respekt vor der Meinung anderer zu bewahren. Es müsse in einer demokratischen Gesellschaft möglich sein, Auseinandersetzungen über unterschiedliche Meinungen zu führen, ohne dass diese zu einem Beziehungsabbruch führen. Das ist laut Burtscher-Mathis ein Aushandlungsprozess der notwendigerweise zur gesellschaftlichen Entwicklung dazugehört.

Der Soziologe weiß aber auch, dass es sicher Beziehungen geben wird, die dadurch zerbrochen wurden und es nach der Pandemie auch bleiben werden. Er ist aber der Meinung, dass die Mehrheit den Konflikt nach der Pandemie vergessen wird.

Soziologische Aspekte fokussieren

Für Burtscher-Mathis hat man sich bisher zu einseitig auf die medizinischen Aspekte der CoV-Pandemie fokussiert. Das sei in einem gewissen Maß natürlich nachvollziehbar, man sollte aber vor allem die sozialen Konsequenzen für die besonders stark betroffenen Gruppen, wie die Jugendlichen nicht übersehen. Sie wurden laut Burtscher-Mathis massiv in ihren Freiheitsrechten eingeschränkt und damit natürlich auch in ihrer Entwicklungsphase. Nun sei es wichtig, auch in diese Richtung Maßnahmen zu setzen, damit Kinder und Jugendliche wieder stärker in ihrer Entwicklung gefördert werden.