Eine Stelle, an der obdachlose Jugendliche übernachten
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Soziales

Jugendliche brauchen eine Notschlafstelle

Auch in Vorarlberg leben viele junge Menschen auf der Straße. Schon seit Jahren wird darum über eine eigene Jugend-Notschlafstelle diskutiert. Und ausgerechnet jetzt – wo die Politik diese Stelle endlich schaffen möchte – könnte wegen der Coronavirus-Krise das Geld dafür fehlen. Eine ORF-Vorarlberg-Reportage lässt die Betroffenen zu Wort kommen.

„Ich bin mit meinen Eltern nicht mehr so gut klargekommen und dann war es meine eigene Entscheidung zu sagen: Ich gehe jetzt, mir reicht’s, ich kann das nicht mehr", erzählt Matthias (Name von der Redaktion geändert). Er war ein halbes Jahr in ganz Österreich unterwegs, hat bei Freunden geschlafen, aber auch im Wald oder in Tiefgaragen.

Dabei hat er viele kennengelernt, denen es ähnlich ging. Die Hilfsbereitschaft unter den Jugendlichen war groß: „Die sind einfach zu mir gekommen und haben gefragt, ob ich für die Nacht einen Schlafplatz habe. Wenn ich nein gesagt habe, sagten sie: Du kannst zu uns kommen. Die hatten ein Haus besetzt und kannten mich gar nicht, aber sie haben mich trotzdem mitgenommen.“

Schlafplatz gegen Sex

Aber Matthias hat auch immer wieder Männer getroffen, die seine Situation ausnutzen wollten – sie forderten Sex für einen Platz auf dem Sofa: „Das ist ziemlich oft vorgekommen, aber das habe ich halt immer abgelehnt, weil kein Bett der Welt mir das wert wäre.“

Drogen gegen die Gedanken

Auf der Straße ist niemand nüchtern, Drogen gehören dazu wie Kälte und Regen, sagt Matthias: „Um sich warm zu halten hauptsächlich Alkohol. Alles andere ist nur, damit man nicht denken muss; damit man sozusagen in seiner eigenen Welt sein kann und gedanklich nicht mehr auf der Straße ist.“

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Die vernarbten Unterarme eines obdachlosen Jugendlichen
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Zwei obdachlose Jugendliche im Gespräch mit ORF-Redakteurin Bettina Prendergast
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Zwei Jugendliche, die in Vorarlberg auf der Straße gelebt haben, im Gespräch mit ORF-Redakteurin Bettina Prendergast
Viele Brücken sind inzwischen mit Gittern gegen Obdachlose gesichert
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Viele Brücken sind inzwischen vergittert, damit dort keine Obdachlosen Unterschlupf finden können
Eine Stelle, an der obdachlose Jugendliche übernachten
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An Orten wie diesen müssen obdachlose Jugendliche in Vorarlberg übernachten

Nachts am Bahnhof

Leo (Name von der Redaktion geändert) kann das bestätigen, er ist vor einem Monat mitten in der Coronavirus-Krise abgehauen, weil er Streit mit seinem Bruder hatte. Er übernachtete auf dem Bahnhof in Rankweil: „Wenn man um zwei Uhr morgens am Bahnhof ist, sieht man wirklich nur Leute, die Drogen nehmen, da schlafen oder saufen. Man begegnet nur solchen Leuten.“

Unter der Bücke ist auch kein Platz

Matthias wohnt jetzt in einer Wohngemeinschaft und Leo bei seiner Familie. Sie haben aber Freunde, die nicht wissen, wo sie schlafen sollen. Es wird auch immer schwieriger, ein gutes Plätzchen zu finden, so manche Brücke ist mittlerweile gut gesichert.

Streit um einen Teller Suppe

Jugendarbeiter wie Tömmy Kaiser kommen noch am ehesten an die Ausreißer heran: „Zu uns in die Jugendhäuser sind auch schon Leute gekommen, die hungrig ausgesehen haben und sich zu dritte um eine Schüssel Suppe aus dem Automaten gestritten haben. Wenn wir sowas mitbekommen, geben wir ihnen ab und zu eine Kleinigkeit.“ Ein warmes Essen hilft, aber erst in Gesprächen an einem sicheren Ort können Probleme gelöst werden. Die Sorge wächst, dass gerade wegen der Coronavirus-Krise kein Geld mehr für eine Jugendnotschlafstelle da sein wird.

Vorarlberg braucht dringend eine Jugendnotschlafstelle

Auch in Vorarlberg leben viele junge Menschen auf der Straße. Schon seit Jahren wird darum über eine eigene Jugendnotschlafstelle diskutiert. Und ausgerechnet jetzt – wo die Politik diese Stelle endlich schaffen möchte – könnte wegen der Coronakrise das Geld dafür fehlen.

Investitionen und Unterstützung notwendig

Die Folgen könnten für die obdachlosen Jugendlichen von heute verheerend sein, sagt Kinder- und Jugendanwalt Michael Rauch: „Das sind die Mindestsicherungs-Bezieherinnen und -Bezieher von morgen, das sind die Arbeitslosen von morgen und das sind dann jene Jugendlichen, die auch nicht in soziale Sicherungssysteme einbezahlen und darum müssen wir jetzt in der Krise besonders gut auf jene schauen, die benachteiligt sind und da braucht es wirklich Investitionen und Unterstützung.“

Eine Jugendnotschlafstelle in Vorarlberg würde im Jahr 500.000 Euro kosten, wer von Sozialhilfe abhängig ist, keinen Job hat und womöglich kriminell wird, kostet den Staat dagegen rund zwei Millionen Euro. Abgesehen davon ist es unbezahlbar, einen jungen Menschen vor einem Leben auf der Straße zu retten.