Seit über sechs Wochen dürfen Vorarlbergs Kinder und Jugendliche nicht mehr in die Schule gehen und müssen ihre Sozialkontakte auf ein Minimum reduzieren. Das hinterlasse Spuren auf den jungen Seelen, sagt der Fachgruppen-Obmann der Kinder- und Jugendpsychiatrie, Hans-Peter Oswald. Er hatte seine Praxis in den vergangenen fünf Wochen durchgehend geöffnet und rund 250 Kinder und Jugendliche betreut.
Kinder- und Jugendpsychiater zu den CoV-Auswirkungen
Kinder- und Jugendpsychiater Hans-Peter Oswald spricht über die psychischen Auswirkungen der CoV-Krise.
Verunsicherung und Druck
Laut Oswald war gerade zu Beginn der Pandemie eine große Verunsicherung zu spüren. Auf der einen Seite sei eine gewisse Beruhigung eingekehrt, da bei einigen Kindern der Druck durch die Schließung der Schulen und Kindergärten nachgelassen habe. Es gab laut Oswald weniger Zuweisungen und weniger Notanzeigen. Kinder, die in der Schule Probleme hatten, gemobbt wurden oder sich nicht konzentrieren konnten, hätten sich mit ihren „Hausübungen“ zuhause deutlich wohler gefühlt, obwohl natürlich auch sie ihre Freunde vermisst haben, sagt Oswald.
Auf der anderen Seite haben sich laut Oswald einige Familien gemeldet, die genau das Gegenteil erleben. Diese Familien sind durch die aktuelle Situation unter Druck geraten. Beispielsweise ausländische Familien, in denen die Eltern plötzlich zuhause unterrichten mussten, aber schon allein die Aufgabestellung nicht lesen konnten. Oder alleinerziehende Mütter mit mehreren Kindern, die auf fremde Betreuung angewiesen sind und um die Familie ernähren zu können, eigentlich arbeiten sollten.
Bedürfnisse müssen ersetzt werden
Derartige Extremsituationen spiegeln sich in der Kinderseele wieder. Es kann gut gehen, wenn die Familie gute Ressourcen hat, die Beziehungen intakt sind und die Eltern und Bezugspersonen zur Verfügung stehen. Entscheidend ist hierbei auch, dass die Eltern selbst die Situation halbwegs gut bewältigen können und Ruhe behalten, trotz zusätzlichem Alltagsstress oder finanzieller Sorgen. Denn auch bei Kindern, die mit der aktuellen Situation gut umgehen können, kann Frust enstehen, erklärt Oswald. So muss der Alltag umgestellt werden, körperliche Bedürfnisse wie das Spielen mit anderen Kindern, Aktivitäten im Sportverein oder der Besuch bei den Großeltern können nicht mehr erfüllt werden. Einige Kinder reagieren darauf mit unnötigem Stress, mit Unruhe, Agressivität oder entwickeln Schlafstörungen.
Tagesstruktur hilft
Eltern können die Überforderung der Kinder aber auch abfedern, meint Oswald. Eine Tagesstruktur helfe dabei enorm. Eine Struktur mit Lerneinheiten und Pausen, aber auch mit dem gezielten Aufsuchen der Natur, mit Bewegung sowie einem Unterhaltungsprogramm, beispielsweise mit Brettspielen aber auch mit dem einen oder anderen Film.
Problematisch sei es vor allem bei jenen Kindern, die bereits Unterstützungsleistungen im Alltag erhalten, wie durch das AKS oder das IFS. Gerade bei kleinen Kindern, bei denen der Mindestabstand nicht eingehalten werden kann, fallen die Betreuungsmöglichkeiten derzeit komplett weg.
„Kinder brauchen einfach Kinder“
Welche emotionalen und sozialen Folgen diese Quarantäne mit sich bringt, ist derzeit noch nicht erkennbar und sicherlich von Kind zu Kind unterschiedlich, sagt Oswald. Wie gut das jeweilige Kind diese Phase wegsteckt, hängt von der jeweiligen Widerstandsfähigkeit, der Resilienz sowie der emotionalen und sozialen Reife ab. Fakt ist: es wird Kinder geben, die Schuldefizite aufbauen, Anpassungsschwierigkeiten haben und unter den fehlenden Sozialkontakten auch noch nach der Quarantänezeit leiden.
Übergang zur Normalität erleichtern
Mitte Mai öffnet ein Teil der Schulen wieder. Der Übergang zurück in das gewohnte Sozialleben kann den Kindern laut Oswald deutlich erleichtert werden. Er rät, den Kindern offen und ehrlich zu erklären, was künftig erlaubt ist, und das dann aber auch umzusetzen. Also Kontakte zu anderen Familien, Nachbarn und den eigenen Verwandten zu suchen und diese Kontakte dann auch gemeinsam zu genießen.