Die Lindauer Psychotherapiewochen – eine der größten Fortbildungsveranstaltungen im Bereich Psychotherapie weltweit – beschäftigte sich heuer im April mit dem Thema „Das Ende der Vernunft“. Die Frage, ob unser Hirn überhaupt vernünftig ist, sollte dort Lutz Jäncke beantworten. Professor Jäncke ist Hirnforscher und Neuropsychologe an der Universität Zürich. Besonders die Individualität, das Außergewöhnliche, die Lernfähigkeit, aber auch die ungeheure Unvernunft des Menschen faszinieren ihn seit vielen Jahren.
„Wir alle denken, dass wir als Menschen rationale Entscheidungen treffen. Unser Hirn würde streng logisch das Für und Wider abwägen. Doch wir täuschen uns“, sagt Jäncke. Je mehr wir über die Funktionsweise jenes Denkorgans erfahren, desto plausibler werde die Frage, wie vernünftig wir denn eigentlich wirklich sind. Jäncke nimmt die Hörerinnen und Hörer mit auf eine faszinierende Reise und zeigt auf verständliche und unterhaltsame Weise, wie unser Hirn unser Denken, Handeln und Fühlen beeinflusst – und dass das manchmal nur am Rande mit Vernunft zu tun hat.
Kleines Organ mit vielen Nerven
Das menschliche Gehirn, dieses kleine Organ, hat unvorstellbare viele Nerven. Es besteht aus 80 bis 100 Milliarden Nervenzellen. Es ist ein Mini-Organ, das nur circa zwei Prozent des gesamten Körpervolumens einnimmt. Trotz der Tatsache ist unser Gehirn ein unfassbarer Energie-Vampir: Es verbraucht mindestens 20 Prozent des gesamten Energie-Haushaltes des Körpers.
Eines betont Professor Jäncke: Man müsse sein Hirn schon nutzen, sonst verliert man es. Das Gehirn verändert sich in Abhängigkeit der individuellen Erfahrung, es verändert sich in Abhängigkeit dessen, was es tut.
In der Frage nach der Vernunft des Hirns schwingt die Antwort schon mit: Das Hirn ist nicht vernünftig. Wir beurteilen nämlich relativ und mitunter ganz schön absurd. Weil das Hirn ein Interpretationsorgan ist, könne es natürlich auch zu Fehlinterpretationen kommen, zu eigenartig klingenden Krankheiten, die wie psychische Krankheiten wirken, aber laut Professor Jäncke neurologische Ursachen haben.
Gehirn ermöglicht Wahrnehmungen
Das Gehirn ermöglicht, Wahrnehmungen unterschiedlichster Art abzuspeichern und – je nach Assoziation, etwa bei Musik – wieder abzurufen. Unser Gehirn ist ein Netzwerk und dieses Netzwerk ermöglicht uns, individuelle Bilder zu generieren, aufgrund unserer individuellen Erfahrung.
Der Mensch kann also keine Vernunft entwickeln, resümiert Professor Lutz Jäncke von der Universität Zürich. Wir können die Komplexität dieser Welt nicht durch logisches Denken verstehen, denn dazu müssten wir alle Informationen haben, die es gibt. Wir sind laut Jäncke hingegen richtiggehend blind für den größten Teil der Welt. Wir nehmen nur einen klitzekleinen Teil der Welt wahr. Und wir sind die Weltmeister im Interpretieren – und zwar im Ex-Post-Interpretieren. Vor allem aber ist Vernunft individuell.
Zur Person:
Prof. Dr. Lutz Jäncke ist Neurowissenschaftler und Psychologe, der sich seit Jahrzehnten mit dem Gehirn des Menschen und dem Verhalten wissenschaftlich beschäftigt. Besonders die Individualität, das Außergewöhnliche, die Lernfähigkeit aber auch die ungeheure Unvernunft des Menschen faszinieren ihn seit vielen Jahren.
Seit 20 Jahren ist er Ordinarius für Neuropsychologie an der Universität Zürich und wissenschaftlicher Direktor des Universitären Forschungsschwerpunktes „Dynamik des Gesunden Alterns“. In seiner akademischen Karriere hat sich Lutz Jäncke mit der Formbarkeit des menschlichen Gehirns durch Lernen und Erfahrung auseinandergesetzt.
Sendungshinweis: „Focus“ – Themen fürs Leben bei ORF Radio Vorarlberg, 11. September 2022, 13.00 bis 14.00 Uhr
Publikationen:
- Ist das Hirn vernünftig? Hogrefe, 2016
- Von der Steinzeit ins Internet. Der analoge Mensch in der digitalen Welt, Hogrefe AG, 2021