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„Focus“

Autismus und Pseudoautismus – der „digitale Schnuller“

Focus beleuchtet das Thema Autismus – und ein recht neues Phänomen, das Kinderärztinnen und Ärzten zunehmend Sorgen bereitet: Der sogenannte „Pseudoautismus“. Die Primaria für Kinderheilkunde Sonja Gobara hat dazu im Rahmen der Reihe „Wertvolle Kinder“ des Vorarlberger Kinderdorfs referiert.

Ein Prozent der Bevölkerung in Österreich leidet unter Autismus. In den letzten Jahren ist es zu einer deutlichen Zunahme von Autismus-Diagnosen bei Kindern gekommen. Einerseits weil das Thema eine neue Aufmerksamkeit erhielt, andererseits, wegen einer differenzierten Diagnostik. Es gibt sehr viele Indizien für Autismus, bei denen die Alarmglocken schrillen können und dann gibt es noch absolute Warnzeichen, die eine Abklärung unbedingt notwendig machen, sagt Autismus-Expertin Gobara, sogenannte „Red Flags“:

Wenn es kein Brabbeln oder Lautieren im Alter im Alter von einem Jahr gibt, oder keine Gesten. Keine einzelnen Worte im Alter von 16 Monaten, keine zwei Wort-Sätze im Alter von zwei Jahren oder bei jedem Verlust von sprachlichen oder sonstigen Fähigkeiten.

Sonja Gobara
Point of View_ DI Robert Alexander Herbst
Primaria Sonja Gobara leitet das Autismuszentrum Sonnenschein in St. Pölten, das auf Diagnostik und therapeutische Begleitung spezialisiert ist. Sie ist Kinderärztin mit dem Zusatzfach Neuropädiatrie und systemische Familientherapeutin, zudem engagiert sie sich als Obfrau der „Politischen Kindermedizin“.

Je früher eine Diagnose, desto besser behandelbar

Je früher eine Diagnose gestellt wird, desto besser ist Autismus behandelbar. Wobei man sagen muss, Autismus ist nicht heilbar, eine frühe Behandlung kann aber eine erhebliche Verbesserung bringen. „Mir wäre es am liebsten, wenn die Kinder bereits mit 18 Monaten zu uns kommen“, sagt die Autismus-Expertin.

Zunehmend beunruhigt die Kinderärztinnen- und -ärzte mittlerweile folgendes Phänomen: der „Pseudoautismus“ oder auch „Virtueller Autismus“ genannt. Rund die Hälfte der Kinder, die mit der vermeintlichen Diagnose „Autismus“ überwiesen werden, haben eine soziale Entwicklungsstörung. Der Grund: Bereits Babys hängen am Tablet oder Smartphone, Eltern stellen sie mit dem sogenannten „digitalen Schuller“ ruhig.

Exzessiver Konsum digitaler Medien großer Risikofaktor

Es ist keine Seltenheit, dass sich unter Dreijährige bis zu acht Stunden am Tag mit dem Smartphone beschäftigen, sagt Kinderärztin Gobara. Sie zeigen ähnliche Symptome wie Autisten: „Die Kinder haben ganz wenig Blickkontakt, haben ganz wenig soziale Motivation, mit dem Gegenüber in Kontakt zu treten, haben eine extreme Sprach -Entwicklungsverzögerung und große Schwierigkeiten im sozial emotionalen Bereich.“

Sendungshinweis: „Focus“ – Themen fürs Leben bei ORF Radio Vorarlberg, 11. März 2023, 13.00 bis 14.00 Uhr

Der exzessive Konsum digitaler Medien im Kindesalter stellt einen klaren Risikofaktor für die kindliche Entwicklung dar. „Sprache erwirbt man in der Beziehung und sozialen Interaktion“, erklärt die Expertin. „Immer mehr Kinder, die in den Kindergarten kommen, haben offensichtlich noch nie ein Bilderbuch angeschaut. Sie wischen mit dem Finger über die Seiten. Oder sie stehen vor dem Aquarium und versuchen, die Fische mit dem Finger größer und kleiner zu machen.“

„Smombies“ – Smartphone Zombies

Niemand will auf die Vorteile von Smartphones oder Tablets verzichten. Gefragt ist aber ein vorsichtiger Umgang, besonders wenn man kleine Kinder hat. Das Verhalten der Eltern spielt eine große Rolle. Wenn alle Erwachsenen in die digitale Welt vertieft sind, lernt das Kind: Das da im Handy ist wichtig, ich bin es nicht. Wenn allerdings niemand mehr mit dem Kind interagiert, kommt seine Entwicklung zum Stillstand, warnt Gobara, dann kommt es zur Resignation und zur Frustration der Babys und Kleinkinder.

Am 21. und 22. April findet zum Thema Pseudoautismus ein Kongress der Politischen Kindermedizin in Salzburg statt: Aufwachsen in einer digitalisierten Welt – Von der Gefährdung zur Chance.

Der exzessive Medienkonsum bleibt bei den Kindern auch nicht ohne körperliche Folgen. Man spricht von digitaler Demenz oder „Smombies“ – also Smartphone Zombies. Das Gehirn verändert sich sogar: Jenes Areal, das den Daumen steuert, vergrößert sich, dafür nimmt die Menge an weißer Substanz ab. Diese hilft bei der Verarbeitung von Gedanken und anderen wichtigen Funktionen, wie Sprache.

Unter 3-Jährige sollten keine digitalen Medien konsumieren

Die Abhängigkeit der Kleinsten von Handy und Tablet wird auch von der Wirtschaft fragwürdig gefördert: Ein Handyhalter am Kinderwagen ist für viele fast schon ein Must, und es gibt sogar Töpfchen mit integriertem Tablet-Halter. Der Medien-Konsum fängt insofern immer früher an. Das wurde während der Pandemie noch verstärkt, die Zeiten vor dem Bildschirm wurden mehr.

Der Wunsch und Appell der Autismus-Expertin ist so klar wie dringlich: Unter Dreijährige sollten nicht mit digitalen Medien in Berührung kommen. Primaria Sonja Gobara fordert Workshops zur Sprach- und Medienkompetenz für Eltern, ebenso wie mehr Aufklärung. Kinder würden sich eigentlich auch das Gleiche wie früher wünschen: Zeit und Nähe der Eltern, eine Gutenachtgeschichte, draußen sein, mit Freunden spielen, Radfahren usw.

Gobara sieht Tablets in Volksschulen kritisch

Auch die Ausstattung von Volksschulen mit Tablets, auf die viele nun stolz sind, sieht die Primaria für Kinderheilkunde kritisch. Das bereite ihr große Sorgen: „Ich war wirklich entsetzt, als der Herr Faßmann verkündet hat jedes Kind braucht einen Laptop in der Volksschule. Ich bin mir nicht sicher, wie viel davon Industrie getriggert ist. Ich sehe das sehr kritisch. Wenn, dann braucht es einen guten Ausgleich dazwischen. Die Technik erlernen die Kinder sehr schnell. Das können die 2-jährigen, das können die 3-jährigen. Aber die Nutzung und die Kompetenz, darauf müsste man den Schwerpunkt legen.“

Gobara sagt weiters „Der Alltag ist entscheidend, nicht die virtuelle Welt. Wir lernen und entwickeln uns, in dem wir die Welt gemeinsam erleben und unsere Erfahrungen mit anderen teilen.“