Familie, Sprechen, Sprache
imago images/Westend61
imago images/Westend61
„Focus“

Kann man Sprachen (ver)erben?

Beim Montagsforum in Dornbirn referierte Sprachwissenschafterin Rosemarie Tracy von der Universität Mannheim zum Thema Sprachenerwerb und Mehrsprachigkeit. Tracy ist eine deutsche Anglistin und Linguistin. Sie studierte Anglistik, Romanistik und Psychologie.

Gleich zu Beginn des Vortrags zeigte die Linguistin auf, dass wir alle mehrsprachig sind – schließlich schreiben wir nicht so, wie wir sprechen. Man spricht auch nicht mit den Kindern oder Enkeln, wie mit den Nachbarn. Wir haben unterschiedliche Stile, unterschiedliche Register, die wir ziehen können, je nachdem, mit wem wir sprechen. Eigentlich werden wir spätestens mit Schulbeginn mehrsprachig. Das ganz besonders in Ländern, in denen schon ganz viele Dialekte existieren, wie beispielsweise in Österreich.

Rosemarie Tracy sagt Spracherwerb ist ein Kinderspiel, jedenfalls jener von Kindern. Bei Erwachsenen sieht das anders aus. Mark Twain, der den Text schrieb „The Awful German Language“, hielt eigentlich das Deutsche für nicht erlernbar. Er meinte scherzhaft, eigentlich sollte man das Deutsche zu den toten Sprachen rechnen, weil nur die Toten Zeit hätten, es zu lernen.

Rosemarie Tracy
Privat
Rosemarie Tracy ist eine deutsche Anglistin und Linguistin. Sie studierte Anglistik, Romanistik und Psychologie. Nach der Habilitation 1995 war sie Professorin an der Universität Mannheim für Anglistische Linguistik, wo sie heute als Seniorprofessorin tätig ist. Einen Schwerpunkt hatte die Sprachwissenschafterin zuletzt im Bereich Spracherwerb und Mehrsprachigkeit bei Kindern und Erwachsenen. 2022 erhielt sie den Wilhelm-von-Humboldt-Preis der Deutschen Gesellschaft für Sprachwissenschaft, zur Würdigung ihres Lebenswerks.

„Deutsch ist nicht gleich Deutsch“

Kinder hingegen, die Deutsch lernen, haben mit einem Alter von drei Jahren die Architektur der deutschen Grammatik so weit internalisiert, dass sie genau dem entspricht, was wir auch eigentlich haben. Das Grundgerüst ist aufgestellt.

Die Linguistin an der Universität Mannheim, Rosemarie Tracy, weist darauf hin, dass Deutsch nicht gleich Deutsch ist. Schließlich ist diese Sprache sehr variantenreich – unter anderem wegen der vielen Dialekte. Fakt ist, dass Sprachen aussterben und dass zum Glück auch neue entstehen. Derzeit gibt es 6000 bis 7000 Sprachen auf der Welt.

2.500 Sprachen sind gefährdet

Tracy: „Wir gehen im Moment davon aus, dass davon 2500 Sprachen gefährdet sind, also immer weniger gesprochen werden. Die Gründe dafür liegen auf der Hand: Die letzten Sprecher*innen dieser Sprachen versterben und dann werden diese Sprachen auch nicht mehr von Kindern erworben. Es gibt Kriege, Vertreibung, Unterdrückung, es gibt überall auf der Welt Sprachverbote und auch den freiwilligen Wechsel zu den Mehrheitssprachen.“ Allein in Deutschland sind 13 Sprachen, also Dialekte, vom Aussterben bedroht.

Manchmal ist eine Revitalisierung möglich, sagt die Sprachwissenschafterin der Universität Mannheim. Das hat man in Wales erfolgreich gemacht, oder auch bei den Maori in Neuseeland.

In Städten entwickeln sich viele neue Sprachen

Zudem entstehen ständig auch neue Sprachen und Dialekte. Tracy nennt als Beispiel das „Kiezdeutsch“, eine Sprache, die vor allem Jugendliche in urbanen Räumen sprechen. Gerade Städte sind laut Rosemarie Tracy ein wunderbarer Boden, um zu sehen, wie sich neue Varianten von Sprachen entwickeln.

Sendungshinweis: „Focus“ – Themen fürs Leben bei ORF Radio Vorarlberg, 18. Februar 2023, 13.00 bis 14.00 Uhr

Bis ins hohe Alter können wir Sprachen lernen, wir tun damit etwas sehr Gutes für unser Gehirn. Wenn wir Sprachen lernen, dann ist auch die Wahrscheinlichkeit höher, dass sich andere Effekte verzögern: Kognitives Altern, Demenz. Die Sprachenvielfalt und die Nutzung dieser Vielfalt hält unser Gehirn fit. Nutzen Sie Ihre Sprachen, rät insofern Frau Professor Tracy.

Der Spracherwerb ist mitunter aber schwierig. Kein Wunder, die Sprache an sich ist ja in vielerlei Hinsicht sehr komplex. Etwa in sozialer Hinsicht: Ich muss ja entscheiden, wie ich reden kann, je nachdem, wer mir gegenübersteht. Kognitiv komplex: Ich muss mir überlege, was ich eigentlich sagen will. Motorisch komplex: Ich muss gut 100 Muskeln aktivieren und deaktivieren, um einigermaßen klar zu artikulieren.

Alle 1.000 Wörter verspricht man sich

Täglich erweitert sich unser Wortschatz. Der aktive Wortschatz besteht aus etwa 30.000 bis 50.000 Wörtern, der passive Wortschatz ist viel umfangreicher, laut Professor Tracy vielleicht das Dreifache. Der Wortschatz ist unser Leben lang erweiterbar.

Versprecher sind nicht verwunderlich. Die normale Sprechgeschwindigkeit beträgt etwa 120 bis 150 Wörter pro Minute und dabei kann mal was schief gehen. Alle 1.000 Wörter verspricht man sich.

Sprache hat auch beachtlichen Unterhaltungswert. Witze leben von einer Mehrdeutigkeit, die wir dann manchmal spontan erst erkennen. Die Werbung nutzt das. Rosemarie Tracy: „Den Spaß an der Sprache muss man uns nicht beibringen. Der stellt sich spontan ein. Wir nutzen ihn nur viel zu wenig, auch da, wo es darum geht, junge Menschen jetzt für Sprachliches oder Kinder für das Lernen neuer Sprachen zu interessieren.“

Sprache hat viel mit Macht zu tun

Sprache ist auch immer mit Emotionen verbunden. Die Sprache lässt uns wirklich nicht kalt. Unsere Wortwahl ist selten neutral, sie zeigt Wertschätzung, Abwertung, Nähe, Distanz, Solidarität. Über Sprache geben wir laut Rosemarie Tracy zudem viel von uns preis: wer wir sind, wo wir herkommen – regional, sozial; Was ist unser Bildungshintergrund? Wie alt sind wir? Das kann man an der Wortwahl oft erkennen.

„Wir machen uns sehr verletzlich über unsere Sprache und unsere Sprache ist daher auch ganz eng mit unserem Selbstwertgefühl verbunden. Wir lassen uns nicht gern kritisieren dafür, wie wir reden. Das ist auch etwas, was wir im Kopf behalten sollten, wenn es darum geht, in Schulen mit Menschen umzugehen.“

Sprache hat laut Tracy auch viel mit Macht zu tun. Man erahnt das an Sprichwörtern: „Wer hat eigentlich das Sagen, wer macht jemanden mundtot?“ Ein amerikanischer Linguist hat mal gesagt „A language is a loaded weapon“. Es ist auch eine Waffe, die wir gegeneinander einsetzen können.
Frau Professor Tracy entlarvt zum Schluss eine gewisse Doppelmoral in der Gesellschaft. Auf der einen Seite wird das Erlernen von Sprachen als ungemein wichtig erachtet. Auf der anderen Seite haben viele aber Angst vor Menschen mit fremder Sprache.

Rosemarie Tracy: „Wir sind sehr ratlos, wenn es um die real existierende Stimmenvielfalt in unseren Bildungseinrichtungen geht. (…) Wir sehen linguistische Diversität also als Wettbewerbsvorteil auf internationalen Märkten. Und gleichzeitig stellen wir ständig die Sprachen der Zugewanderten in Frage.“