Professor Ulrich Raulff
Victoria Tomaschko
Victoria Tomaschko
„Focus“

Vom Schreiben und Bleiben

In der „Focus“-Sendung geht es dieses Mal um das Thema Schreiben und wie sicher ist das Nachleben der Literatur. Der deutsche Historiker und Autor Professor Ulrich Raulff hat dazu beim Montagsforum in Ravensburg einen Vortrag gehalten.

Es gibt das alte Sprichwort „Wer schreibt, der bleibt“. Doch wie sicher ist der Erhalt von Schriftstücken, von Literatur überhaupt? Sind die Inhalte von Romanen, Gedichten oder Sachbüchern beständig, gar für die Ewigkeit gemacht oder droht der Arbeit von Autorinnen und Autoren unweigerlich irgendwann mal das Aus? Und zwar unabhängig davon, ob die Texte auf Papier abgedruckt oder auf Datenträgern abgespeichert wurden? Der deutsche Historiker und Autor Professor Ulrich Raulff hat dazu beim Montagsforum in Ravensburg den Vortrag gehalten: Vom Schreiben und Bleiben – Wie sicher ist das Nachleben der Literatur. Professor Raulff war jahrelang Direktor des Deutschen Literaturarchivs Marbach am Neckar.

Von den Nachkommen gehütet

Wer sorgt dafür, dass das Geschriebene bleibt? Dass die Briefe nicht im Altpapier landen und die Bücher im Reißwolf? Früher war es mitunter die Familie, die Erben. Viele Papiere von Autorinnen und Autoren, in seltenen Fällen sogar der ganz berühmten, werden von ihren Nachkommen gehütet – etwa der Nachlass von Rainer Maria Rilke, sagt Professor Raulff. „Der Nachlass dieses Dichters, den die Welt verehrt, liegt im Safe der örtlichen Sparkasse einer Kleinstadt am Fuß des Schwarzwaldes – unter den wachsamen Augen der Familie.“

Der erste der einen eigenen Archivar beauftragte, war niemand geringerer als Johann Wolfgang Goethe . Knapp 200 Jahre ist es her, dass der alte Dichter einen Bibliothekar einstellte mit dem Auftrag, seine Manuskripte zu ordnen und zu verzeichnen.

Professor Ulrich Raulff
Victoria Tomaschko
Ulrich Raulff ist ein deutscher Historiker und Autor. Er habilitierte sich im Fach Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität Berlin. Ulrich Raulff arbeitet derzeit als Präsident des deutschen Instituts für Auslandsbeziehungen (ifa). Zuvor war er jahrelang Direktor des Deutschen Literaturarchivs Marbach am Neckar.

Anders verhielt es sich zunächst laut Professor Ulrich Raulff bei Schiller: „Friedrich Schiller war zwar ein großer, schon zu Lebzeiten gefeierter Dichter gewesen, aber von seinen Schriften sollte nach seinem Tod nicht viel übrigbleiben. Nachkommen und Verehrer behandelten seine Manuskripte wie heilige Schriften, was sie nicht davon abhielt, sie mit der Schere zu pflegen und wie Reliquien zu atomisieren.“

Das Schiller Museum von Marbach gibt es seit 1903. Daraus entwickelte sich später das Deutsche Literaturarchiv, das 1955 gegründet und 2005 in Deutsches Literaturarchiv Marbach umbenannt wurde.

Mehr als 1.400 Nachlässe in Marbach

Echte Literatur-Archive sammeln Nachlässe von mehreren Schreibenden. In Marbach werden mehr als 1400 individuelle Nachlässe gehütet – vollständig oder in Teilen. Manche teilen es sich auch mit anderen Archiven, Arthur Schnitzler etwa oder Peter Handke. Der berühmteste Fall ist Franz Kafka, von dem große Nachlass Teile in Oxford und kleinere in Jerusalem liegen.

Kein Starprinzip

Weil große Archive die Werke von mehreren Schreibenden sammeln, gibt es kein Starprinzip. „Natürlich greifen sie als Archivar immer noch nach den Sternen, den berühmten und gefeierten, den Nobelpreisträgern und -preisträgerinnen. Aber daneben sammeln sie auch die Nachlässe, in denen die Literatur als Geschäft und Gespräch sichtbar wird, als Markt, Labor und Werkstatt, als Tausch, Platz von Ideen, Themen und Techniken. Ein sehr spezielles Netzwerk, in dem Energien eigener Art zirkulieren“, so Raulff.

Sendungshinweis: „Focus“ – Themen fürs Leben bei ORF Radio Vorarlberg, 18. Dezember 2022, 13.00 bis 14.00 Uhr

Kein „Club der toten Dichter“

In Archiven findet man auch nicht mehr ausschließlich die Werke von bereits verstorbenen Größen, mittlerweile sind auch bereits lebende Schriftstellerinnen und Schriftsteller interessant. Ein Archiv ist kein „Club der toten Dichter“ mehr, sagt Professor Ulrich Raulff. „Man muss nicht mehr berühmt und tot sein, um ins Archiv zu kommen. Berühmt sein genügt.“ Warum lebende Autorinnen und Autoren ins Archiv wollen? „Grob gesagt lassen sich drei Motive identifizieren: erstens Ruhm, zweitens Geld und drittens Platzbedarf.“

Ein Archiv bietet also Schutz – aber nur bedingt, wenn man an so viel von ein und demselben Material denkt – an Papier. Das kann schief gehen. Das verdeutlichen etliche Brände in Sammlungen, Bibliotheken und Archiven.

Rapide Kühlkosten

Papier bringt weitere Probleme mit sich: „Rotwein, Kaffee und Zigarettenqualm sind noch die harmlosesten Aggressoren, die über die Papiere gekommen sind. Brände und Wasserspuren sprechen von anderen Schicksalen. Hinzu kommt der fortschreitende Zerfall der säurehaltigen Papiere des 20. Jahrhunderts.“ Die Lagerung in gekühlten Räumen mit kontrollierter Luftfeuchtigkeit ist besonders energieintensiv. Die Kühlungskosten steigen derzeit rapide.

Modernere Datenträger bieten nicht unbedingt mehr Sicherheit. Auch sie haben innere wie äußere Feinde. „Selbstverständlich wohnen sie auch in den elektronischen Speichermedien, die das Archiv seit etwa zwei Jahrzehnten aufnimmt: den Tonbändern, Disketten, CDs, DVDs, Sticks und Festplatten, die in steigendem Maß mit den Vor- und Nachlässen von Autoren und Autorinnen in die Magazine der Archive einziehen. Sie bringen neue Konservierungsprobleme mit sich, neue Problemlagen und Arbeitsfelder.“

Aufnahmen auf Schwarz-Weiß-Filmen

Filme schätzt man da noch am sichersten ein, erklärt Professor Raulff. Sie sind noch die verlässlichsten Träger – mit Schwarz-Weiß-Filmen hat man immerhin rund 200 Jahre Erfahrung.

„Man macht Aufnahmen der Manuskripte auf klassischen Schwarzweißfilm, und lagert die Filmrollen an einem sicheren Ort, möglichst tief unter der Erde. Für deutsche Archive ist diese Art der Barbara-Stollen nahe Freiburg im Breisgau – ein Objekt unter UNESCO Sonderschutz. Unter einer Schicht von mindestens 200 Meter Erdreich und Gestein ruhen hier neben diversen Arten von Dokumenten auch die verfilmten Manuskripte der deutschen Literatur. Die Bedingungen garantieren maximale Sicherheit. Wohlgemerkt, es sind nicht die Originale, die diesen Sonderschutz genießen, sondern nur ihre Abbilder oder Kopien.“

Maximum an Datensicherheit

Stichwort neue Datenträger – gibt‘s in modernen Archiven eigentlich sowas wie eine Cloud? Und wie kann man die verschiedenen Daten im Archiv vor Hackern schützen?

Professor Ulrich Raulff: „Das Literaturarchiv transferiert seine Daten in Netzwerke von Verbünden, die auf das Management von Forschungsdaten spezialisiert sind und in Verbindung mit Höchstleistungs-Rechenzentren stehen. Dank der ständigen Spiegelung der Daten in dezentralen Netzen garantieren die Verbünde ein Maximum an Datensicherheit, zum Beispiel gegen Hackerangriffe.“

Gefahr durch Krieg

Zu den Gefahren, die der Literatur drohen, gehören aber nicht nur Schimmel, Säure oder Datenverlust, sondern auch Krieg. Schon kurz nach der Invasion in die Ukraine begann die russische Armee mit der gezielten Zerstörung von Kulturstätten, Theatern, Kirchen und Museen. Seit einiger Zeit ist die Deportation von Kulturgut, Kunst, archäologischen Sammlungen und Dokumentenaus Museen und Archiven hinzugekommen, sagt Professor Ulrich Raulff.

„Mit diesem Angriff auf die künstlerische und literarische Überlieferung hatten wir nicht gerechnet. Dass deutsche Truppen vor 80 Jahren schon einmal auf demselben Boden mit ähnlichem Vandalismus vorgegangen sind, hatten wir vergessen. Seit kurzem steht uns wieder vor Augen, was es für eine Bevölkerung bedeuten kann, seines kulturellen und literarischen Erbes beraubt zu werden. Was können die Überfallenen dagegen tun? Genau das, was sie getan haben. Alles digitalisieren, so schnell es geht. Und dann zuerst die Daten, danach die Originale aus dem Land schaffen.“

Literatur braucht also aktuell wieder mehr Schutz, damit sie erhalten bleibt.

Thomas Bernhard: Rekordpreis für einen Nachlass

Er war sicher der größte Staatskritiker der heimischen Literatur nach 1945. Und seit Freitag ist er unumstritten der für den Staat kostbarste, wenn man nicht sagen will: teuerste Autor. Für 2,1 Millionen Euro wurde der komplette Nachlass von Thomas Bernhard mit Hilfe der Republik für das Österreichische Literaturarchiv erworben. Ein Glücksfall, finden Expertinnen und Experten. „Er ist damit für das Land zur neuen Sisi geworden“, attestiert Marlene Streeruwitz – mehr dazu in ORF.at