Antonia Dinzinger, Msc, ist Psychologin und Bindungsforscherin am Institut für Early Life Care der Paracelsus medizinischen Privatuniversität Salzburg.
Johannes Zeiler
Johannes Zeiler
„Focus“

Bindungsforscherin Antonia Dinzinger

In der „Focus“-Sendung spricht die Bindungsforscherin Antonia Dinzinger darüber, wie verhindert werden kann, dass negative Bindungs- und Beziehungserfahrungen in die nächste Generation getragen werden. Aufgenommen wurde im Rahmen der Reihe „Wertvolle Kinder“ des Vorarlberger Kinderdorfs im ORF-Landesfunkhaus Vorarlberg.

Alle Eltern haben wohl in ihrer Kindheit mit ihren Eltern Erfahrungen gemacht, die man den eigenen Kindern ersparen möchte – und bei denen man sich denkt „Das mache ich -wenn möglich- besser“. Wie man es verhindern kann, dass man negative Bindungserfahrungen von der einen Generation zur nächsten weitergibt und wie die positiven Erfahrungen als Ressourcen dienen, das war Thema bei der Reihe „Wertvolle Kinder“ des Vorarlberger Kinderdorfs. Psychologin und Bindungsforscherin Antonia Dinzinger vom Institut „Early Life Care“ an der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität Salzburg hat dazu im ORF-Landesfunkhaus Vorarlberg in Dornbirn diesen Vortrag gehalten.

Sie sagt: „Die Unterbrechung von negativen Bindungs- und Beziehungserfahrungen ist möglich. Ganz egal, was ein Mensch erlebt hat – durch die Aufarbeitung von Trauma wird es möglich, dass man seine Erlebnisse, die man in unterschiedlichen Beziehungen gemacht hat, eben nicht an die nächste Generation weitergibt.“

Im Laufe unseres Aufwachsens machen wir täglich eine Vielzahl von Bindungs- und Beziehungserfahrungen, die unser Bild von Beziehungsgestaltung – und erleben prägen. Von Anfang an. Wenn Babys geboren werden, haben sie das angeborene Bedürfnis danach, sich an eine Person zu binden, an eine Fürsorge-Person, die immer größer, klüger und stärker ist und die das Überleben sichert.

Bedürfnis nach Bindung nimmt mit der Zeit ab

Der Begründer der Bindungstheorie, der englische Kinderpsychiater und Psychoanalytiker John Bowlby, beschreibt es so: Bindung ist das gefühlstragende Band, das zwei Menschen über Raum und Zeit hinweg miteinander verbindet. Zunächst ist das Bedürfnis nach Bindung noch sehr stark. Erst im Lauf des Lebens reicht nur noch die Vorstellung davon, wie liebevoll eine Beziehung zu einer Person war.

Zur Person:
Antonia Dinzinger, Msc, ist Psychologin und Bindungsforscherin am Institut für Early Life Care der Paracelsus medizinischen Privatuniversität Salzburg.

Jedes Kind muss sich binden. Jedes Kind kommt mit diesem Bedürfnis auf die Welt. Demgegenüber steht, wie im Schlüssel-Schloss-Prinzip, die Bindungsbereitschaft von uns Erwachsenen, eine Fürsorgebereitschaft. Aber wie diese Bindung ausschaut, ob die zum Beispiel sicher ist oder unsicher, das hängt davon ab, was Mama, Papa oder alle anderen Bindungspersonen, die dem Kind zur Verfügung stehen, dem Kind an Verhalten bieten – und dementsprechend verhält sich dann das Kind. Letztendlich sind die kindlichen Bindungsmuster eine Anpassungsleistung oder eine Anpassungsreaktion auf das, was die Bindungspersonen dem Kind an Verhalten anbieten.

Bindungsmuster der Erwachsenen entstehen als Kind

Aus den Bindungsmustern der Kinder heraus entstehen, angereichert sozusagen mit allen anderen Beziehungserfahrungen, auch die Bindungsmuster der Erwachsenen. Da kann es auch Eltern geben, die selbst ein ungelöstes Trauma haben. Dadurch können Eltern oder Erwachsene laut Dinzinger nicht mehr auf ihre Bindungsrepräsentationen zurückgreifen.

„Wenn zum Beispiel Missbrauch oder Misshandlung oder auch Unfälle passiert sind, ist es manchmal so, dass Erwachsene dann in Beziehungen auch tatsächlich destruktiv werden, dass es dann missbräuchliche Beziehungen gibt. Weil es ihnen nicht mehr möglich ist, kognitiv adäquat zu reagieren.“

Sendungshinweis: „Focus“ – Themen fürs Leben bei ORF Radio Vorarlberg, 10. Dezember 2022, 13.00 bis 14.00 Uhr

Eltern, die ein ungelöstes Trauma haben, passiert es oft, dass dieses Trauma in der Beziehung mit dem Kind reaktiviert wird. Das heißt, – sagt Bindungsforscherin Antonia Dinzinger – dass die Eltern in der Beziehung mit den Kindern völlig überfordert sind. Die Versorgung funktioniert möglicherweise noch, aber die Beziehung funktioniert nicht. „Wenn so was hoch kommt in der Beziehung, dann ist ein emotionaler Konnex mit dem Kind nicht möglich. Dann braucht es Aufarbeitung.“

Und wenn die eigenen Kinder dann ganz laut schreien, springt genau diese Erinnerung wieder in den Eltern an, sagt Psychologin Dinzinger. Denn sie sind selbst wieder das kleine Kind, das sich am liebsten gerne in den Schrank verkriechen würde. Das heißt, die ziehen sich dann auch zurück, sie geben ihre Fürsorge komplett auf, verfallen vielleicht wieder in die Panik, die sie von damals noch kennen. „Was eben auch passieren kann, ist, dass dann die Aggression durchbricht.“

Auch positive Erfahrungen werden weitergegeben

Bei der transgenerationalen Weitergabe können aber auch positive Erfahrungen weitergegeben werden. „Wir wissen, dass Eltern, die selber sicher autonom gebunden sind, mit einer relativ hohen Wahrscheinlichkeit auch wieder Kinder haben, die sicher gebunden sind. Da liegt die Weitergabe-Rate bei ungefähr 70 bis Prozent.“

Den stärksten Einfluss macht die elterliche Feinfühligkeit aus, also wie feinfühlig eine Bezugsperson mit ihrem Kind ist. Das bestimmt letztendlich, ob das Kind dann sicher gebunden ist. Die Feinfühligkeit erklärt den größten Anteil bei einer Weitergabe – aber dieser größte Anteil beträgt laut Bindungsforscherin Antonia Dinzinger vom Institut für Early Life Care nur 25 Prozent.

Das Funktionsniveau der Familie erklärt noch ein bisschen was und auch die Qualität der Paarbeziehung, sowie die Mentalisierungsfähigkeit – das ist die Fähigkeit von Eltern, sich in die Gedanken, Gefühle und Handlungsabsichten von ihrem Kind und ihrem Partner, aber auch von sich selbst hineinzuversetzen. Die Fähigkeit hilft nämlich feinfühlig zu sein. Wenn ich mir Gedanken darüber machen kann, was mein Gegenüber gerade denkt und fühlt, dann kann ich natürlich auch feinfühliger darauf reagieren.

Negative Trigger oft gar nicht bewusst

Was hilft jetzt also negative Erfahrungen nicht weiterzugeben?
Zunächst muss man diese Trigger überhaupt mal identifizieren, denn oft sind sie einem gar nicht bewusst.

Aber genauso wichtig ist es, dass man auch Ressourcen identifiziert. Antonia Dinzinger: „Das heißt, dass man mal hinschaut und sich fragt: Was ist denn da alles passiert in der Vergangenheit? Worauf kann ich denn zurückgreifen? Was mache ich denn, wenn ich im Stress bin? Ganz konkrete Handlungsstrategien. Was hilft mir sonst, wenn ich im Stress bin? Und welche positiven Erfahrungen habe ich möglicherweise in meiner Vergangenheit gemacht, auf die ich auch zurückgreifen kann?“

Man weiß mittlerweile, dass jede Person in der Vergangenheit einen Unterschied gemacht haben kann. Es müssen nicht immer die Eltern sein, mit denen es positive Beziehungserfahrungen gibt. Antonia Dinzinger verweist dazu auf eine Studie von Bindungsforschern in den USA: Die haben sich Geschwister angeschaut, die zwar bei den gleichen Eltern aufgewachsen sind, von denen aber einer delinquent geworden ist, also einer ins Gefängnis gekommen ist und einer nicht. Da hat man sich gefragt: Warum wird jetzt der eine straffällig und warum der andere nicht?

Das Ergebnis ist verblüffend: Das Geschwisterkind, das nicht straffällig geworden ist, hatte im Laufe seines Lebens irgendwann mal Kontakt zu einer Bindungsperson, die der andere nicht hatte. Es war eine sichere Bindungsperson, die diesem Kind zur Verfügung gestanden ist und die dem anderen Geschwisterkind gefehlt hat. Das heißt: Letztendlich kann jede positive Bindungserfahrung am Ende einen Unterschied machen.

Weitergabe von negativen Erfahrungen kann unterbunden werden

Positive wie auch negative Beziehungserfahrungen beeinflussen also unser Denken und Handeln in Interaktionen. Es ist möglich, dass wir die transgenerationale Weitergabe dieser Erfahrungen, vor allem der negativen, unterbrechen können.

Durch das Bewusstwerden eigener Stress-Trigger bzw. traumatischer Erfahrungen, die wir in Beziehungen gemacht haben, kann diesen im geschützten Raum begegnet und eine Weitergabe unterbunden werden.

Auch durch die ressourcenorientierte Arbeit und die Ausarbeitung von konkreten Handlungsstrategien für belastende Situationen, kann es klappen, dass nichts weitergegeben wird.