„Focus“

Individualität und Verbundenheit

Arzt, Hirnforscher und Psychotherapeuten Joachim Bauer hat bei den vergangenen Goldegger Dialogen zum Thema Verbundenheit und Individualität – Die zweifache Bestimmung des Menschen – gesprochen. Beides – Individualität und Verbundenheit – brauchen wir Menschen, das schließt sich nicht aus.

Professor Doktor Joachim Bauer ist Neurowissenschaftler, Arzt, Psychotherapeut und Autor zahlreicher Sachbücher. Nach vielen Jahren an der Universität Freiburgarbeitet er heute in Berlin. Für seine neurowissenschaftliche Arbeit wurde er mit dem Organ- und Forschungspreis der deutschen Gesellschaft für biologische Psychiatrie ausgezeichnet. Das Magazin Cicero zählte Joachim Bauer zu den einflussreichsten Intellektuellen im deutschsprachigen Raum.

Bauer hat bei den vergangenen Goldegger Dialogen zum Thema Verbundenheit und Individualität gesprochen. Er erklärte zuerst wie ein Individuum entsteht, wie sich das Selbst im Menschen formt, wie der Säugling zum „Ich“ wird. Dazu verweise ich aber auf unsere Focus-Sendung vom 8. Jänner die ausführlich darauf einging und die sie noch online in unserem Focus-Archiv nachhören können.

Die Soziale Verbundenheit als biologische Bestimmung des Menschen

Unsere Vitalität und unsere Lebenslust werden durch Einsamkeit eingebremst – und zwar massiv. Unseren Überlebenstrieb gibt es nur, wenn diese Motivationssysteme im Mittelhirn nur aktiviert werden. Diese Systeme brauchen das Gefühl von Zugehörigkeit, um ihre Botenstoffe auszuschütten – anderes gesagt, wir brauchen Freunde. Online-Freunde über die sozialen Netzwerke machen dabei laut Bauer nicht glücklicher, aber die realen Freundschaften bewirken laut Studien eine Verbesserung des Lebensgefühls und wirken antidepressiv.

Die Verbundenheit und die soziale Unterstützung von anderen sind laut Joachim Bauer auch lebensverlängernd. Die Mortalität von einsamen Menschen ist, wie viele Studien ergeben haben, erhöht. Der Faktor Einsamkeit ist auf die Mortalität stärker als die Faktoren Rauchen und Alkohol. Wichter für die Gesundheit als nicht zu rauchen und Alkohol moderat zu konsumieren ist laut Bauer also gut sozial verbunden zu sein. Er sieht die soziale Verbundenheit als biologische Bestimmung des Menschen.

Joachim Bauer
Joachim Bauer

Diese Verbundenheit kann man laut Bauer noch toppen – und zwar durch soziales Engagement. Das wirkt sich, wie mehrere Studien unabhängig voneinander rausgefunden haben, positiv auf die Gesundheit aus. Eine zweistündige ehrenamtliche Tätigkeit pro Woche reichen schon, sagt Bauer. Das hat Effekte auf das Risiko krank zu werden, als auch auf das Risiko zu sterben und es ist antidepressiv. So eine Tätigkeit gibt den Menschen auch Lebenssinn.

Eine prosoziale Einstellung ist nicht nur erwiesenermaßen gesund, Joachim Bauer sieht darin sogar die Bestimmung des Menschen. Vergleichsstudien haben nämlich ergeben, dass 53 problematische Gene, die eine chronische Entzündung im Menschen (etwa in den Blutgefäßen, oder im Darm, Brust, Prostata …) hervorrufen können, unterschiedlich aktiviert sind: Menschen, die sich bemühen ein sinngeleitetes und prosoziales Leben zu führen, die sich ehrenamtlich engagieren, die für andere etwas tun, haben im Vergleich zu Menschen, die in diesem Bereich völlig frei sind, eine deutliche Befriedung dieser Risikogene.

Die anderen haben hingegen eine Auf-Aktivierung der Risikogene im Vergleich zur durchschnittlichen Bevölkerung. Das heißt: Die ethische Grundhaltung, die Lebenseinstellung eines Menschen hat Auswirkungen auf die Genregulation. Ein gutes Miteinander ist daher laut Bauer die Bestimmung des Menschen.

Individualität und Verbundenheit auf der Ebene der Gene

Auch Gene sind individuell und verbunden. Ein Gen allein ist aber wie ein „armes, bedauernswertes Würstchen“, sagt Bauer. Gene sind Kooperatoren und Kommunikatoren, Organismen sind kooperative Systeme. Da hat Bauer, der selbst an Genen geforscht hat, eine gute Nachricht für uns: Es gibt nur ganz wenige Erbkrankheiten. Sie machen höchstens 3 Prozent aller Krankheiten aus.

Die großen Volkskrankheiten wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Depressionen, Angsterkrankungen, Diabetes mellitus werden nicht nur schlechte oder falsche Gene hervorgerufen. „Das war das alte Denken“, sagt Bauer. Bei letzteren Krankheiten hat der betreffende Mensch eine Lebensführung, die ungünstig ist für die richtige und gesundheitsdienliche Einstellung seiner Gene.

Individualität und Verbundenheit in zwischenmenschlichen Beziehungen des Alltags

Joachim Bauer sieht in Individualität und Verbundenheit die zweifache Bestimmung des Menschen. Das zeigt sich im Alltag vor allem darin, wie wir Menschen Beziehungen leben:
Jemand der ein verängstigtes Selbst hat, ist sowohl geschwächt in seiner Individualität als auch in seiner/ihrer Fähigkeit verbunden zu sein. Verbundenheit muss man auch zulassen können. Eine pathologische Extremvariante der Individualität ist die Einsamkeit, sagt Bauer, eine Extremvariante der Verbundenheit ist die Massenpsychose, die Meute.
Die Kunst des Lebens besteht laut Professor Bauer darin, auf der einen Seite bei sich selbst sein zu können, dass man es mit sich selbst aushält, auf der anderen Seite, dass wir Verbundenheit zulassen können. Diese Balance gilt es in Freundschaften, Partnerschaften und in Gruppen zu bewahren.

Den Verlust von Verbundenheit und Individualität kann es in Partnerschaften etwa geben, wenn die Partner quasi „verschmelzen“, wenn man es nicht aushält, dass der andere ein anderer ist – nach dem Motto: „Wir sind völlig eins“.
Problematisch ist laut Bauer aber auch die Selbstaufopferung. „Ich tu für dich alles“. Eine Selbstaufgabe kann aber auch zum Burn-Out führen, warnt Psychotherapeut Joachim Bauer. Zudem gibt es in vielen Partnerschaften die Gefahr der Inbesitznahme.
Ein krasse hierarchische Gestaltung von Beziehungen verhindert sowohl Individualität als auch Verbundenheit.

Die Bedeutung von Kultur und Natur für Individualität und Verbundenheit

Für unsere Individualität und Verbundenheit – und somit für ein gesundes Leben – haben zwei Dinge eine große Bedeutung: Zum einen die Natur, die müssen wir schützen, und zum anderen die Kultur, die dürfen wir uns, wie Joachim Bauer sagt, ja nicht kleinreden lassen.

Kultur wird seiner Ansicht nach sündhaft unterschätzt, denn Kultur bedeutet, dass ich Menschen – aktiv oder passiv – mit den vielen Ausdrucksmöglichkeiten des Menschen beschäftigen. Dadurch wird das Individuum gestärkt – das wurde laut Hirnforscher Bauer neurowissenschaftlich belegt.
Wenn man eine Musik hört, die man liebt, aktiviert das ganz ähnliche Systeme im Hirn, wie die Begegnung mit einem anderen Menschen. Menschen, die kulturell aktiv sind, haben eine bessere seelische Gesundheit. Kultur stärkt aber auch die Verbundenheit durch das gemeinsame Erleben, etwa in einem Chor zu singen.

Die Natur ist ein Resonanzraum und ermöglicht Momente der Ergriffenheit und des Staunens. Bauer ist überzeigt, dass die Natur etwas Subjekthaftes hat, etwas Lebendiges – und das wir dies nur tief drinnen in uns spüren. „Wir müssen das in den Verstand bringen, dass wir begreifen, das das so ist“, sagt Psychologe Joachim Bauer.

Sendungshinweis: „Focus“ – Themen fürs Leben bei ORF Radio Vorarlberg, 3. September 2022, 13.00 bis 14.00 Uhr

Wir werden uns – sagt Bauer – schwer tun den Lebensstil von große Bevölkerungsmehrheiten ändern. Nämlich von jenen, die von der Natur entfremdet sind, die kaum Möglichkeit haben den naturraum in seine Schönheit persönlich zu erfahren. Denn nur was man liebt, möchte man auch schützen.

Welche politische Ordnung ist ideal für die Stärkung von Individualität und Verbundenheit

Individualität und Verbundenheit vertragen sich nicht mit steilen Hierarchien.Der deutsche Hirnforscher, Arzt und Psychotherapeut Joachim Bauer bricht am Ende seines Vortrag eine Lanze für ein starkes, demokratisches und freies Europa der Werte. Als Gegenstück zu Kollektivismus wie in China oder Russland, bzw. Kapitalismus und Neo-Liberalismus, wie in den USA.