Kinder Hand in Hand
Michaela – stock.adobe.com
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„Focus“

Geschwister: Von Liebe und Hass

Geschwister – sie lieben und sie hassen sich, besonders während der Pubertät, in der die Suche nach der eigenen Identität im Vordergrund steht. In der heutigen ORF Vorarlberg-Sendung „Focus“ beantwortet Dr. Meike Watzlawik von der Sigmund-Freud-Privatuniversität Berlin die Frage, welchen Teil Geschwisterbeziehungen zur Identitätsentwicklung beitragen – insbesondere bei Zwillingen.

Auch wenn es einem oft nicht so bewusst ist: Geschwister haben jedenfalls eine sehr große Auswirkung auf unser ganzes Leben, auf die Formung unseres Charakters. Geschwister bieten auch viele Lernmöglichkeiten.

Die Geschwisterbeziehung ist die längste verwandtschaftliche Beziehung in unserem Leben, länger als die zu unseren Eltern oder unserem Partner und sie ist die intensivste Erfahrung von Nähe in der Kindheit. Geschwister prägen uns also intensiv, sagt Watzlawik bei den Lindauer Psychotherapiewochen.

Zwischen Vertrauen und Konkurrenz

Ein Leben unter Geschwistern ist geprägt durch Vertrauen, aber auch durch Konkurrenz. Eine Geschwisterrivalität, die sich aus dem Buhlen um die Liebe der Eltern ergibt, fördert die Entwicklung und den Aufbau der eigenen Identität.

Meike Watzlawik
Meike Watzlawik
Dr. Meike Watzlawik

Sie ist insofern genauso natürlich und „gesund“ für die Entwicklung wie eine Geschwisterliebe. Rivalität fördert etwa Empathie, Selbstbehauptung und Gemeinschaftsgefühl. Es gilt: Je geringer der Altersabstand, desto größer die Rivalität – und auch: Je weniger Kinder, desto größer die Rivalität.

Ältere Geschwister als Vorbild

Forschungen haben gezeigt, dass die Position in der Geschwistergruppe nachhaltig die individuelle Lebensgestaltung prägt. Zudem prägt das Geschlecht des Geschwisterkindes generell das Rollenverhalten des einzelnen.

Thesen und Charakterzuschreibungen wie „Der Älteste ist traditionsbewusst, das mittlere Kind kontaktfreudig und das letztgeborene rebellisch“ seien zu hinterfragen, sagt Professorin Watzlawik. Ein paar Sachen treffen sicher zu – etwa, dass die älteren Vorbildfunktion haben –, man müsse sich dazu aber immer die gesamte Familien-Konstellation genau ansehen.

Familiendynamik ändert sich mit zweitem Kind

Dr. Watzlawik sagt auch, dass sich die Theorie des „Entthronungstraumas“ von Alfred Adler nicht empirisch belegen lasse. Diese fast 100 Jahre alte Theorie Adlers, der sich als erster wissenschaftlich mit den Geschwisterbeziehungen beschäftigt hatte, besagt, dass das älteste Kind Schwierigkeiten hat, bei der Geburt eines zweiten Kindes seine Privilegien als Einzelkind abgeben zu müssen.

Sendungshinweis: „Focus“ – Themen fürs Leben bei ORF Radio Vorarlberg, 4. Juni 2022, 13.00 bis 14.00 Uhr

Natürlich verändert sich die Familiendynamik, sagt Watzlawik, traumatisch sei es aber in der Regel nicht. Eltern sollten dazu aber das ältere Geschwisterkind in die neue Situation mit einbinden, rät Watzlawik.

Zwillinge als eine Einheit

Buchtipp:
„Sind Zwillinge wirklich anders? – Geschwister in der Pubertät“, erschienen bei Tectum-Verlag

Dr. Meike Watzlawik hat ein Buch geschrieben, das sich insbesondere auch mit Zwillingen auseinandergesetzt hat. Bei Zwillingen heißt es oft, es bestünde zwischen ihnen so etwas wie ein „unsichtbares Band“. Watzlawik hat festgestellt, dass das in Wahrheit nur selten so ist.

Dass Zwillinge oft als Einheit angesehen werden, bringt auch das große Problem mit sich, dass sie sich nicht immer frei entfalten können. Es gibt dabei einen großen Unterschied, ob es sich um eineiige oder um zweieiige Zwillinge handelt.

Verhältnis zwischen Stiefgeschwistern spannungsgeladen

Mittlerweile gibt es in der Gesellschaft immer mehr Patchworkfamilien und daher auch Stiefgeschwister, mitunter gibt es auch Halbgeschwister – man spricht da als Überbergriff auch von „sozialen Geschwistern“. Nicht nur in Märchen, wie beim Aschenputtel, sondern auch tatsächlich ist das Verhältnis zwischen Stiefgeschwistern oft sehr spannungsgeladen. Geschwister in der biologischen Familie müssen nämlich neuerlich um ihren Platz rivalisieren.