Es gibt ein Gefühl, das sich oft unbemerkt in unser Alltagsleben einmischt, unsere Handlungen bestimmt und unsere Stimmungen beeinflusst. Forscher sagen sogar, es sei die Hauptemotion des täglichen Lebens: Die Scham.
Sie wurde lange Zeit in der Therapie wenig beachtet, und in der Wissenschaft wenig erforscht. Untersuchungen haben nun aber ergeben, dass die Scham die vorherrschende Ursache für emotionalen Stress ist, mit wesentlich stärkeren Wirkungen auf das seelische Ungleichgewicht als beispielsweise Wut, Trauer oder Angst.

Bedeutend für unser Zusammenleben
Die Scham regelt unseren Selbstwert und unser Sozialverhalten. Sie ist bedeutend für unser menschliches Zusammenleben. Der Sinn der Scham ist auch unser Verhalten in sozialen Gefügen zu bewerten. Wenn wir also Grenzen eines anderen überschreiten, meldet sich sofort das Schamgefühl. Schamvergessenheit bedeutet Sozialvergessenheit, sagt Wilfried Ehrmann. Wenn wir die Fähigkeit, uns zu schämen, verlieren, werden wir sozial unempfindlich, dann sind wir nicht mehr fähig wahrzunehmen, was unser Verhalten anderen antut. Menschen sind von Anfang an Gruppenwesen – daher ist dieses Gefühl so wichtig. Die Scham ist der Sensor für das Gedeihen der sozialen Zusammenhänge.
Scham braucht ein empathisches Gegenüber
Die Scham bleibt aber häufig im Hintergrund und wird leicht übersehen. Dabei hat sie eine Appellfunktion und will den anderen zeigen, dass da jetzt was aus dem Ruder gelaufen ist, dass man Akzeptanz braucht. Die Scham braucht dazu ein empathisches Gegenüber, ein Gegenüber, das spüren kann, dass etwas Dramatisches passiert ist. Es muss jemand sein, der wieder Halt und Sicherheit geben kann.

Scham ist auch ein Korrektiv
Auch wenn es zu einem Machtmissbrauch kommt und man etwa in seine eigene Tasche wirtschaftet, meldet sich die Scham und sagt quasi: „Hör auf damit!“. Auch die Gesellschaft meldet sich und sagt „Das geht so nicht!“. Das hat auch seinen Sinn – sagt Ehrmann – weil das Sozialgefüge davon abhängt, dass die Willkür einzelner begrenzt ist. Scham ist eben auch ein Korrektiv, sie ist notwendig, andernfalls würden wir in einer „Gesellschaft der Unverschämten“ leben, sagt Wilfried Ehrmann.
Man muss sich selbst verzeihen können
Wilfried Ehrmann zeigt auch Auswege aus Problemen auf, die die Scham hervorruft. Wichtig ist vor allem, dass man sich selbst verzeihen kann. Man muss sich selbst so akzeptieren, wie man ist – mit seinen Stärken und Schwächen.
Zur Person: Dr. Wilfried Ehrmann.
- Geboren 1953 in Schärding, Oberösterreich
- Studierte Philosophie, Geschichtswissenschaft, Pädagogik und Geschichte in Wien
- Seit gut 30 Jahren als Psychotherapeut in Wien tätig mit den Schwerpunkten Atemarbeit, Trauma- Heilung und Pränataltherapie
- Vorträge und Seminare im In- und Ausland, mehrfacher Buchautor
- Seit 1991 Herausgeber der ATMAN-Zeitung – Fachzeitschrift für Atemarbeit und Atemtherapie
Sendungshinweis: „Focus“ – Themen fürs Leben bei ORF Radio Vorarlberg, 14. Mai 2022, 13.00 bis 14.00 Uhr