„Focus“

Wie ein Zusammenleben funktionieren kann

Für ein gelungenes Zusammenleben sollte man nicht auf die Herkunft schauen, sondern auf die gemeinsamen Interessen. Eine Gesellschaft würde nämlich nicht funktionieren, wenn wir nur unterschiedlich wären, sagt der deutsche Soziologe Kenan Güngör, der als Integrationsexperte auch die Bundesregierung berät in der ORF Radio Vorarlberg „Focus“-Sendung.

Wir wären überrascht, wie viele Ähnlichkeiten wir auch mit „den andern“ haben, etwa wenn es etwa darum geht, dass sich Menschen eine Existenz aufbauen wollen, dass auch Zugewanderte ihren Kindern eine bessere Zukunft sichern wollen.

Es gibt diese Ähnlichkeiten im Alltagsbereich und deswegen funktioniert der gemeinsame Alltag auch relativ gut, sagt Güngör. Wichtig ist also zu erfahren, welche Interessen und Leidenschaften die zugewanderten Menschen haben, was sie bewegt. Das wären die Punkte bei denen die Menschen „zusammenkommen“ und zueinander finden, meint Güngör.

Soziologe Kenan Dogan Güngör
think.difference
Soziologe Kenan Güngör

Bei fremden Kulturen ist es doch oft so, dass man nur ein schablonenhaftes Wissen hat, – und mitunter Vorurteile. Man reduziert extrem und nimmt dabei die einzelne Person gar nicht wahr, sagt Soziologe Güngör. Ein Beispiel: Wenn man von muslimischen Frauen spricht, hat man automatisch das Kopftuch vor Augen, dabei tragen 70 Prozent der Muslima keines. Welche Chance – fragt Soziologe Güngör – hat dann eine solche Frau bei den vorherrschenden Bildern anders wahrgenommen zu werden? Diese Reduktion macht etwas mit den Menschen, sagt der Soziologe. Sie müssen sich ständig erklären und versuchen, ein Bild zurecht zu rücken. Es gilt die Person als solche wahrzunehmen. Wir sprechen viel zu oft von „den Türken, den Tschetschenen, den Afrikanern“. Wir denken zu oft an Nationen, als an den einzelnen Menschen – und das obendrein oft klischeehaft. Umgekehrt werden innerhalb von Österreich regionale Unterschiede sehr stark betont: „Wien ist doch ganz anders als Vorarlberg!“ oder „Das Rheintal ist doch ganz anders als der Bregenzerwald“ – nennt Güngör Beispiele. Die Maßstäbe variieren also stark.

Heute leben wir in einer pluralistischen Gesellschaft und sie wird gerade wieder vielfältiger – durch Migration, etwa durch Menschen, die als Flüchtlinge zu uns kommen. Dadurch gibt es auch eine ganz große Kontroverse in der Gesellschaft. Die einen sehen die Fremden als Bedrohung, die anderen als Bereicherung – und genau diese „Entweder-oder-Sichtweise“ ist laut Kenan Güngör problematisch. Die einen sehen immer nur die Gefahr der Überwanderung, die Gefahr des Islamismus, die anderen wiederum nehmen nur die Bereicherung wahr, die Vielfalt der Sprechen und Kulturen, die Arbeitskräfte, die zum Wohlstand und zum Fortschritt mit beigetragen haben. Eigentlich gibt es beide Seiten, an beiden Phänomenen ist etwas dran sagt, Güngör. Die Schwierigkeit ist, dass wir das nicht zusammendenken können. Menschen haben nämlich die Eigenschaft, die Komplexität und Widersprüchlichkeit der Welt zu reduzieren, weil wir kognitiv nicht in der Lage wären, alles zu erfassen, darum vereinfachen wir, erklärt Güngör. Menschen haben nämlich Schwierigkeiten, Widersprüche im Denken zu ertragen. Die Kunst besteht im konkreten Fall aber darin, das Gesamtbild zu sehen.

Sendungshinweis: „Focus“ – Themen fürs Leben bei ORF Radio Vorarlberg, 9. April 2022, 13.00 bis 14.00 Uhr

Von Migranten erwartet man dasselbe wie von einem Gast zu Hause, sagt Soziologe Kenan Güngör, nämlich Dankbarkeit und Demut. Die Beziehung ist dadurch nie gleichwertig: Es gibt die „Hausherren“, die die Regeln aufstellen, und die anderen. Es gibt also Vorrechte von denen, die sich als Hausherren fühlen. Es gibt insofern einen Widerspruch zu dem was in der Verfassung steht, nämlich „Alle Menschen sind gleich“. Fremdenfeindliche Parteien können das laut Güngör gut instrumentalisieren.

Drei Kernkompetenzen wichtig

Für ein gutes und gelungenes Miteinander, für ein friedliches Zusammenleben. sind laut Kenan Dogan Güngör drei Kernkompetenzen wichtig: Es gilt Menschen als Individuen wahrzunehmen, man muss versuchen die Person als solche zu sehen.

Dann braucht es eine Beziehungskompetenz, ein freundliches Auftreten, denn die Beziehungsebene ist entscheidend für ein gutes Miteinander. Freundlichkeit und Humor machen nach Ansicht des Soziologen viel aus. Erst in einem dritten Schritt hilft dann das Sozio-kulturelle Wissen über die Herkunft etwas. Die Voraussetzung für all das ist eine respektvolle Haltung. Von den Einheimischen genauso wie von den Zugewanderten. Dann kann ein gutes Zusammenleben unterschiedlicher Kulturen möglich werden.

Zur Person:
Kenan Güngör ist ein kurdischstämmiger, deutscher Soziologe und Politikberater, der seit 2007 in Österreich tätig ist. Im Alter von sieben Jahren zog er als Sohn von Gastarbeitern nach Köln. Dort absolvierte er die Ausbildung zum Industriekaufmann und studierte Soziologie an der Universität Wuppertal. Im Jahr 2000 ging Güngör nach Basel, wo er ein Forschungsbüro für Angewandte Sozialforschung und Entwicklung betrieb. Seit 2007 lebt Güngör in Wien und leitet das Forschungsbüro think.difference. Er ist außerdem Mitglied des unabhängigen Expertenrates der österreichischen Bundesregierung, der den jährlich erscheinenden Integrationsbericht herausgibt. Für die Stadt Wien leitete er das „Expert_Forum“ für Deradikalisierung und Prävention.

Der Vortrag des Soziologen Kenan Güngör wurde beim Montagsforum in Dornbirn aufgenommen.