Reimer Gronemeyer sitzt auf einem Sofa
Reimer Gronemeyer
Reimer Gronemeyer
„Focus“

„Die Schwachen zuerst“

Der deutsche Theologe und Soziologe Reimer Gronemeyer hat bei den vergangenen Goldegger Dialogen zum Thema Zuversicht gesprochen. Für seinen Vortrag, der in dieser Focus-Sendung aufgegriffen wird, wählte er den Titel „Hoffnung wider die Hoffnung“.

Seine große Hoffnung ist ein Umdenken nach der Pandemie, die Chance, jetzt ein neues Wertesystem zu etablieren. Gronmeyer, der sich in seiner Forschung mit den Fragen des Alterns in der Gesellschaft befasst, hielt ein Plädoyer dafür, sich an den schwachen und alten Menschen in der Gesellschaft zu orientieren und sich von der ständigen Wachstums- und Leistungsgesellschaft zu verabschieden. „Die Schwachen zuerst – Lektionen aus dem Lockdown“ heißt sein Buch dazu.

Zeit für Neues?

Viele haben während der Pandemie darauf gewartet, endlich wieder in die „alte Normalität“ zurückkehren zu können – und manche warten immer noch. Die Frage – die auch Soziologe Reimer Gronemeyer stellt – ist aber: Wollen wir wirklich die alte Welt zurückhaben oder wäre nicht jetzt der Zeitpunkt für etwas Neues?

Gronemeyer sieht jetzt einen Wendepunkt, eine Weichenstellung gekommen. Die Frage ist, ob wir jetzt Dinge, die wir vorher gelebt haben, wie die Konsumationssucht, die Mobilitätssucht wieder aufnehmen wollen, oder ob wir aus der Pandemie den Mut und die Hoffnung mitnehmen, „dass wir es anders hinkriegen“.

„Corona war ein Trainingslager“

„Wir sitzen auf den Trümmern der Gesellschaft des Kapitalismus“, sagt Gronemeyer. Im Jahre 1939 geboren hat er die Nachkriegszeit erlebt, eine Zeit, die grundsätzlich von Frieden und von einem stetigen wirtschaftlichen Aufschwung geprägt war, was er als unglaubliches Geschenk bezeichnet. Es ging immer bergauf. Die Gesellschaft des ständigen Wachstums hat aber auch ihre dunklen Seiten: Die Folgen dieses ressourcenverschlingenden Lebensstils sind spürbar – Stichwort Klimakatastrophe.

„Corona war ein Trainingslager“, sagt der Soziologe, und er merkt an, dass man zwar täglich die Zahl der Corona-Toten gehört hat, aber die Zahl derjenigen, deren Demenz sich rapide verschlechtert hat, weil niemand zu Besuch durfte, die Zahl der Menschen, die daran zugrunde gegangen sind, werden wir nie erfahren.

Der ehemalige Soziologieprofessor, der sich intensiv mit Palliative Care beschäftigt, wirft Fragen auf: Sind die Pflegeheime, die schützenden Orte für schwache und alte Menschen, eigentlich vorbereitet auf das, was da alles noch an Krisen auf uns zukommt. Werden die Schwachen in der Gesellschaft richtig wahrgenommen – und zwar nicht nur als Versorgungsempfänger?

Die Pandemie als Chance

Die Pandemie bietet laut Gronemeyer die Chance, einen anderen Blick auf die Schwachen zu werfen. Gerade jetzt, wenn wieder das Recht des Stärkeren zu gelten scheint, stellt sich die Frage, ob die Schwachen zuerst über die Klinge springen müssen. Für den Soziologen ist klar: Die alten und schwachen Menschen müssen künftig Vorrang haben. Sie müssen künftig zum Maßstab werden, damit dadurch das „todbringende Harakiri der Starken“ überwunden wird. Denn deren ressourcenfressende Lebensweise ist zerstörerisch, sie vernichtet unsere Lebenswelt, unseren Planeten. So richten wir uns zugrunde.

Sendungshinweis: „Focus“ – Themen fürs Leben bei ORF Radio Vorarlberg, 12. März 2022, 13.00 bis 14.00 Uhr

Die Schwachen sind für den ehemaligen Pfarrer das Fieberthermometer der Gesellschaft. Die Schwachen sind es, die uns die Diagnose stellen: Was ist das für eine Gesellschaft, in der ihr lebt, in der ihr nur an Konsum, Wachstum, Mobilität, etc. denken könnt? Ein neues, umgekrempeltes Werteverhältnis könne raus aus der Sackgasse der Leistungs- und Wachstumsgesellschaft führen.

Die Schwachen in den Pflegeheimen oder in den Hütten Afrikas sind die, von denen wir lernen können, die uns die notwenigen Impulse für unsere Rettung geben können, sagt Gronemeyer.

Sterbehilfe als essentielle Änderung

Dass die neoliberale Leistungsgesellschaft hingegen nicht an Solidarität denkt, zeigt sich nach Gronemeyers Ansicht auch in den neuen Regelungen zur Sterbehilfe. Der assistierte Suizid würde einen Bruch mit der Geschichte darstellen, die nach langen Auseinandersetzungen die Unverletzlichkeit des Lebens ins Zentrum unserer Gesellschaft gestellt hatte. Im Umgang mit Sterben und Tod erleben wir seiner Ansicht nach nun einen Prozess der Projektierung und Technisierung, der uns zwingt, das Lebensende nicht zu erwarten, sondern es zu planen – das schrecke ihn daran.

Buchtipp: „Die Schwachen zuerst – Lektionen aus dem Lockdown“, Claudius Verlag; 2021; ISBN 978-3-532-62862-1

Reimer Gronemeyer betont, dass er keine fundamentalistische Haltung in punkto assistierte Sterbehilfe habe. Er habe Verständnis dafür, dass dieser Wunsch in einem Menschen stark wird. Er selbst habe Zweifel, wie er reagieren würde, wenn ein Freund ihn um Mithilfe beim Suizid bitten würde, und er wisse auch nicht, ob er die Assistenz nicht selbst in Anspruch nehmen würde. Gronemeyer findet nur, dass zu wenig über eine so essentielle Änderung für die Gesellschaft nachgedacht wird.

Der Theologe Gronemeyer schließt seinen Vortrag mit einem biblischen Wort des Paulus: „Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig“. Es ist ein Apell für eine solidarische Gesellschaft, für einen Wandel, die Abkehr vom Wachstumszwang hin zu einer Selbstbegrenzung zu Wärme und Nähe für die Schwachen in der Gesellschaft.

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