Psychiater Reinhard Haller im ORF-Interview
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„Focus“

„Bewegung und deren Auswirkung“

Der Hirnforscher und ärztliche Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik in Ulm, Univ.-Prof. DDr. Manfred Spitzer und der Suchtexperte, Suizidforscher, Gerichtspsychiater, Psychotherapeut und Bestsellerautor, Univ.-Prof. Dr. Reinhard Haller, sprechen in „Focus“ über „Bewegung und deren Auswirkung auf Geist, Körper und Seele“.

"Gymnaestrada“ ist ein vom Holländer Jan Sommers erfundenes Kunstwort als Verbindung von „Gymnastik“ (Weltbegriff für alles, was mit den Turnsportarten zu tun hat), „strada“ (Straße) und „estrada“ (Bühne). Das Turn- und Tanzgroßereignis nehmen wir zum Anlass, um über „Bewegung und deren Auswirkung auf die geistige Entwicklung bei Kindern“ sowie „Psychotherapie durch Wandern“ nachzudenken.

Für die geistige Entwicklung von Kindern habe die Bewegung eine außergewöhnliche Bedeutung, sagt der Hirnforscher Manfred Spitzer. „Das ist die Zahl des Tages: 1.000.000.000.000.000: Eine eins mit 15 Nullen“, sagt der Hirnforscher Prof. Manfred Spitzer, Ärztlicher Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik in Ulm, „jeder von uns hat eine Million Milliarden Synapsen im Kopf“.

Die Sendung zum Nachhören:

Bis vor rund 35 Jahren habe man nicht gewusst, warum es Synapsen gebe, so Spitzer. Deren Bedeutung erforscht zu haben sei die wichtigste Entdeckung der Hirnforschung. Synapse bezeichnet die Stelle einer neuronalen Verknüpfung, über die eine Nervenzelle in Kontakt zu einer anderen Zelle steht.

Sendungshinweis
„Focus“ – Themen fürs Leben bei ORF Radio Vorarlberg
Samstag, 6.7.2019, 13.00 bis 14.00 Uhr

Bedeutung der Bewegung für die Psyche

Die Empfehlung Spitzers lautet: „Gehen Sie mit ihren Kindern an die Luft und bewegen Sie sich. Studien belegen: Wenn die Kinder in der Natur gelaufen sind, sind sie weniger ängstlich, grübeln weniger, haben weniger negative und mehr positive Affekte.“ Allein das Aufwachsen im Grünen wirke sich positiv aus.

Kinder, die in Betonwüsten lebten, seien in ihrer Kreativität eingeschränkt, so der Hirnforscher. Kinder, die sich bewegen, seien besser drauf und könnten besser denken, wenn sie vorher in der Natur waren. Diese Erfahrung in einer Gruppe machen zu können, habe zudem eine unglaubliche Wirkung auf die Psyche des Menschen. Auch Musik, Tanz, Theater und das Tun mit den Händen sei für Kinder enorm wichtig, wobei Spitzer betont, dass er damit nicht das Wischen über die Laptop-Oberfläche meint.

Manfred Spitzer
Psychiatrische Universitätsklinik in Ulm
Prof.DDr. Manfred Spitzer ist Psychiater, Psychologe und Hochschullehrer

Große Bedeutung der Synapsen

Werden die Synapsen benutzt, werden sie stärker, so der Hirnforscher. Werden sie nicht benutzt, dann werden sie weggeräumt: Die Nervenzellen schieben sich elektrische Impulse zu und dadurch, dass sie das machen, verändern sich die Verbindungen der Nervenzellen. Und so wird das Gehirn immer besser, weil es immer mehr arbeiten kann. Es gleicht der Entwicklung eines Muskels. Wenn der Muskel besser geworden ist, kann man ihn auch besser benutzen.

Primar Reinhard Haller spricht über das Wandern als Form der Psychotherapie. Wenn man sich der Psyche des Menschen nähern will, dann beginnt man in der Zoom-Perspektive bei den großen Dingen: Das ist die Psycho-Geografie. Man meint damit, dass die Landschaft einen Einfluss auf das Gemüt, den Charakter die Wesensart eines Menschen hat.

Haben Psychotherapie und Wandern dieselben Ziele?

  • Bindung verbessern – im Wandern bekomme ich eine Bindung an die Natur
  • Orientierung – Wandern gibt uns Orientierung, weil es uns erdet
  • Kontrolle – durch Durchalten, durch Training und Disziplin
  • Lustgewinn – Wandern bingt einen unglaublichen Lustgewinn: längere Wanderungen bringen eine bessere Gestimmtheit
  • Unlustvermeidung – gegen innere Leere und gegen Angstzustände und gegen Depressionen
  • Selbstwerterhöhung und Stabilisierung – das Wandern und der lange Weg haben hohe Symbolkraft
  • Autonomie – indem ich das Tempo selbst bestimme, den Weg selbst wähle, das Ziel selbst bestimme, indem ich die Zeit, in der ich wandern will, selbst festlege

Wandern ist eine Form verschiedener Psychotherapien. Es beinhaltet viele natürliche Psychotherapieverfahren. Hier seien erwähnt: Körpertherapie, Atemtherapie, Gesprächstherapie – beim Wandern stoße ich den inneren, einen stillen Dialog an. Wandern hat ganz eindeutig einen antidepressiven Effekt. Wenn es einem nicht gut geht, empfiehlt Haller eine Wanderung. Er meint, man möge dabei in sich hineinhorchen um festzustellen, ob sich an der Stimmung etwas verändere.

Wandern als Therapie

Wandern habe in der Suchttherapie die eigentliche Etablierung erfahren. Die Sucht ist der falsche Versuch, sich von einem Basisproblem zu heilen. Gegen das Basisproblem der Sucht kann Wandern positiv wirken.

Zur Person:

Univ.-Prof. Dr. Reinhard Haller gilt als einer der renommiertesten Gerichtspsychiater Europas. Haller hat zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten verfasst, vor allem zu den Themen Sucht, Selbstmord und Kriminalpsychiatrie, und ist Autor mehrerer Bestseller.

Prof.DDr. Manfred Spitzer ist Psychiater, Psychologe und Hochschullehrer. Seit 1998 ist er ärztlicher Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik in Ulm, als der er auch die Gesamtleitung des 2004 dort eröffneten Transferzentrums für Neurowissenschaften und Lernen (ZNL) innehat, das sich vor allem mit Neurodidaktik beschäftigt.