Natascha Kampusch: „Ich hatte Glück“

Natascha Kampusch war kürzlich Gast der Veranstaltungsreihe „Mäder trifft… spezial“ und las aus ihrem neuen Buch mit dem Titel „ 10 Jahre Freiheit“. In „Focus“ spricht sie über ihre Erfahrungen nach der spektakulären Entführung.

Sendehinweis:

  • „Focus“, 17.9.2016, 13.00 bis 14.00 Uhr, ORF Radio Vorarlberg
  • 22.9.2016, 21.00 bis 22.00 Uhr (WH), ORF Radio Vorarlberg

Vor zehn Jahren ist Kampusch die Flucht vor ihrem Peiniger Wolfgang Priklopil gelungen. Am 2. März 1998 war sie von dem arbeitslosen Nachrichtentechniker auf dem Schulweg entführt worden. Ihre Geschichte erzielte ein gewaltiges Echo in den internationalen Medien.

Die Sendung zum Nachhören:

In ihrem neuen Buch beschreibt Kampusch ihr Leben in Freiheit, das Ringen um Normalität, den Umgang mit den Medien, die schwierige Suche nach einer Aufgabe, über das ihr zugesprochene Haus in Strasshof, in dem sie gefangengehalten war und ihr soziales Engagement, etwa die Spende zur Errichtung eines Kinderkrankenhauses in Sri Lanka. Melanie Kritzer und Johannes Schmidle haben Natascha Kampusch vor der Lesung in Mäder für ein kurzes Gespräch getroffen.

Focus Natascha Kampusch

ORF

ORF: Zehn Jahre ist es her, dass Sie aus dem Verlies flüchten konnen, heute sind Sie zu einer Lesung in Vorarlberg. Ist es Ihr erster Besuch in Vorarlberg?

Natascha Kampusch (NK): Ja, soweit ich mich erinnere, ist es mein erstes Mal in Vorarlberg.

ORF: Was bedeuten solche Reisen für Sie? Ist das für Sie Freheit? Oder was verstehen Sie unter Freiheit, nach ihrer Zeit im Verlies? Fühlen sie sich frei?

NK: Ja, ich fühle mich frei. Allerdings, Freiheit bedeutet für mich eher so die innere Freiheit. Äußerlich kann man ja nie frei sein, aber innerlich auf jeden Fall. Und natürlich ist es schön mit dem Zug durch das Land zu reisen und in Vorarlberg anzukommen.

ORF: Sie haben auch schon gesagt, dass für Sie die Urteile und ebenso Vorurteile wie ein Gefängnis sind: Schränkt sie das ein?

NK: Ja, mitunter. Es ist manchmal etwas kompliziert, auf alles einzugehen und das alles zu verarbeiten und zu verkraften.

ORF: Was fällt Ihnen da am schwersten? Woran knabbern Sie am meisten?

NK: Ja, wenn ich falsch verstanden werde von den Menschen. Wenn es Vorwürfe hagelt oder Unverständnis, das belastet mich dann.

ORF: Haben sie das Gefühl, dass sie jetzt ein normales Leben führen? Kann man nach so einer Zeit zu einem normalen Leben zurückkehren?

NK: das kommt darauf an, was jeder Einzelne für normal erachtet. Jeder hat sein eigenes Leben und erachtet das dann als die Norm. Ich vermute, dass ich für mich ein normales Leben lebe.

ORF: Wenn sie uns vielleicht kurz erklären, was es bedeutet, in einem Verlies zu leben: Was fühlt man da, was geht in einem vor?

NK: es ist einfach eine ausweglose Situation aus der man nicht entfliehen kann, wo man das Gefühl hat, man muss überleben. Und man hat ständig das Gefühl, dass man umkommen könnte, also die Angst, dass man sterben könnte. Das ist, was ich damals empfunden habe.

ORF: Wie präsent ist diese Angst jetzt noch?

NK: Jetzt ist es in den Hintergrund getreten, da ich mich selbst befreien konnte. Darüber werde ich ewig froh sein, dass mir das gelungen ist, weil das ist nicht selbstverständlich und ich hatte Glück.

ORF: Warum haben sie sich jetzt entschieden, auch noch dieses zweite Buch zu schreiben? Ist es immer noch eine Aufarbeitung oder eine Abrechnungmit Kritikern und Personen, die ihnen Böses wollten?

NK: Es ging eher am Rande um eine Abrechnung. Mir ging es hauptsächlich darum, die letzten zehn Jahre Revue passieren zu lassen. Eine Rückblende anzubieten für alle, die auch diesen Fall in den Medien verfolgten, damit sie sich auch ihr eigenes Bild von dem machen können, damit sie nicht abhängig sind, was damals in den Medien geschrieben wurde. Ich kann meine Sicht darstellen und wie ich es empfunden habe, die zehn Jahre jetzt.

ORF: Sie sind ja ein bekannter Mensch geworden. Wie leben sie mit ihrer Bekanntheit?

NK: Ja, das geht immer besser. Anfangs fand ich es auch ein bisschen befremdlich. Ganz am Anfang fand ich es in Ordnung, weil es ja ein spektaktulärer Kriminalfall war, der alle interessierte, das war ja auch klar. Aber diese Bekanntheit in der Öffentlichkeit, auf der Straße erkannt zu werden, dieses angesprochen werden, daran musste ich mich gewöhnen.

ORF: Manche bewundern Sie ja auch ob ihrer Fröhlichkeit. Inwieweit ist Lachen für auch Therapie?

NK: Für mich ist Lachen stets wichtig, denn, wie schon gesagt, die Freiheit ist auch etwas selbst Empfundenes und genau so ist es auch mit der Freude, die Sonne strahlt quasi aus dem Inneren.

ORF: Gibt es da auch Schwere?

NK: Ja, also, ich bin durchaus auch oft melancholisch, aber immer weniger, obwohl ich eine Wienerin bin.

ORF: Was stärkt sie? Was macht ihnen Mut?

NK: Mir machen andere Menschen Mut. Und mir macht Mut zu sehen, dass, wenn man konstant bei einer Sache bleibt, man Erfolg erzielen kann.

ORF: Es gibt immer noch Kritiker, die Ihnen Ihr Schicksal nicht glauben. Auch ihr Vater hat sich so geäußert. Wie gehen Sie damit um? Wie kann man da stark bleiben?

NK: Ja, wir leben in einem Land, in dem es freie Meinungsäußerung gibt. Das habe ich zu respektieren. Privat trifft mich das eine oder andere schon, aber ich versuche damit so umzugehen, dass ich sage, das ist deren Meinung, deren Problem, aber nicht meines. Ich weiß wie es war, was ich ausgesagt habe und brauche das nicht beachten, was andere Leute dazu meinen.

ORF: Welche Rolle spielen Sie in ihrem Schicksal? Sind Sie das Opfer? Wie sehen Sie sich selber?

NK: Also ich würde sagen, als Opfer eines Kriminalfalles, ja. Allerdings nicht als Opfer in der Gesellschaft, als das möchte ich nicht wahrgenommen werden.

ORF: Sie haben in verschiedenen Interviews um mehr Privatsphäre gebeten. Es gibt ja auch einen zweiten spektakulären Fall Fritzl, bei dem allen Opfern eine neue Identität gegeben wurde. Hätten Sie sich nach zehn Jahren auch so ein Vorgehen gewünscht? Oder sind Sie froh, dass sie das medial so aufarbeiten konnten?

NK: Also für mich gilt weder das Eine noch das Andere. Für mich war es schon wichtig, mit diesen ganzen Verschwörungstheorien aufzuräumen. Darum ging es mir, darum blieb ich auch die ersten paar Jahre in der Öffentlichkeit und dann entwickelte sich die ganze Sache zu einem Selbstläufer und ich würde auch nicht sagen, dass ich das erste Interview bereue. Es war sehr wichtig und es hat auch sehr viele Menschen damals interessiert. Es wäre rücksichtslos gewesen, hätte ich es nicht gegeben.

ORF: Wie haben Sie sich in den letzten zehn Jahren verändert?

NK: Ich denke, ich bin offener geworden. Ich war zu Beginn auch offen, dann verständlicherweise verschlossen und jetzt sehe ich die Dinge gelassener und kann einfach sagen, das ist das Leben.

Was wird in zehn Jahren sein? Was denken Sie - wird es weitere Bücher geben? Was sind Ihre Hoffnungen und Träume?

NK: Also ich hoffe, es gibt in den nächsten Jahren noch viele Bücher, nicht unbedingt autobiografisch, aber ich möchte mich auch als Autorin versuchen. Und in zehn Jahren - würde ich sagen, dass ich schon sehr viele Projekte gemacht habe, die auch von Erfolg gekrönt waren, und dass ich ein glückliches und zufriedenes Leben führe.

ORF: Wie erleben Sie die Rolle der Medien?

NK: Ich erlebe die Rolle der Medien auch wiederum sehr facetten- und palettenreich. Es gibt natürlich auch Umschwünge, auch was die Gesellschaft anbelangt und in meinen Fall ist es teils eben echtes Interesse, das durch die Medien widergespielt wird, Interesse der Menschen an meinem Schicksal und teilweise auch Voyeurismus und Missgunst und Neid, der sich in einzelnen Medien auch widerspiegelt.

ORF: Bieten die Medien beinahe therapeutische Möglichkeiten an?

NK: Natürlich, es hat auch etwas von Katharsis, der Verwandlung.

ORF: Das Haus, in dem Sie eingesperrt waren, gehört mittlerweile Ihnen. Wie beschreiben Sie die Situation, wenn Sie dieses Haus betreten?

NK: Also, wohl fühle ich mich unbedingt. Es ist eher so ein Gefühl der Beklommenheit, vielleicht liegt es einfach auch an dem Haus.

ORF: Welche Ziele haben Sie für die nächste Zukunft?

NK: Meine Ziele sind dahin ausgerichtet, dass ich mich selber weiterentwickle. Für mich stellt also auch der Weg das Ziel dar. Und wenn man jetzt so pragmatisch fragt, dann ist es klar, ich möchte die Matura machen, ich möchte studieren und alles Mögliche, also da wären wir morgen noch nicht fertig mit dem Aufzählen.

Literatur:

Natascha Kampusch, „10 Jahre Freiheit“, List ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH

Musik:

CD* UNA MATTINA / LUDOVICO EINAUDI
T* Una mattina - für Klavier

CD* UNA MATTINA / LUDOVICO EINAUDI
T* Ora - für Klavier

CD* CAFE DEL MAR - CLASSICAL
T* Time lapse (Afterlife Remix)/instr.